Archiv der Kategorie: Rezensionen

Rage and Petulance

“The debate, as Bannon put it, was not about whether the president’s situation was bad, but whether it was Twenty-Firth-Amandment bad.”

Fire and Fury, S. 297.

Es ist schlimm. Das war zu erwarten; dennoch ist es kaum zu ertragen. Rückblickend ist es eigentlich noch viel schlimmer. Man fragt sich, weshalb diese völlig chaotische, desaströs inkompetente und von Intrigen und persönlicher Missgunst zerfressene Administration nicht schon viel früher in sich zusammengefallen ist wie ein stümperhaft und hastig aufgestelltes Kartenhaus.

Eine Antwort darauf will Michael Wolff in Fire and Fury gar nicht geben. Er ist – um ihn selbst zu zitieren – die Fliege an der Wand, die einen scheinbar ungefilterten Einblick in die dysfunktionale Mechanik einer völlig inkompetenten und unvorbereiteten Administration gewährt. Insbesondere nach dem Ende der Amtsperiode wird klar, dass der 45. nicht nur völlig unqualifiziert für seine Präsidentschaft war, sondern zugleich überhaupt kein Interesse am größeren Bild hatte. Um das Komplizierte sollten sich andere kümmern.

Vermutlich erklärt sich in Wolffs Fokus auf diese anderen – die Strippenzieher und Speichellecker im West Wing – die immense Rage, die nach Erscheinen des Buchs aus dem Oval Office zu hören war. Denn ganz im Gegenteil zum öffentlichen Bild und zu seiner eigenen Selbstwahrnehmung war die Spitzenfigur im Weißen Haus letztlich nur ein Nebencharakter, eine Marionette an den Fäden seines machtgierigen, stets auf den eigenen Vorteil bedachten Umfelds. Welch ultimative Kränkung für einen ohnehin ständig gekränkten Narziss.

Cover von Michael Wolff: Fire and Fury

Michael Wolff: Fire and Fury. Inside the Trump White House.
New York: Henry Holt and Company 2018.
336 Seiten, Hardcover
ab 5,25 €


Verlorene Jugend: Christina Henrys „Lost Boy”

„Once I was young, and young forever and always, until I wasn’t. Once I loved a boy called Peter Pan.

Peter will tell you, that this story isn’t the truth, but Peter lies. I loved him, we all loved him, but he lies, for Peter wants always to be that shining sun that we all revolve around. He’ll do anything to be that sun.

Peter will say I’m a villain, that I wronged him, that I never was his friend.

But I told you already. Peter Lies.” (S. 7)

Und wie er lügt. Märchenhaft klingt es zu Beginn: Eine Insel voller Abenteuer, keine Regeln, keine Erwachsenen — und niemals selbst erwachsen werden.
Doch die Insel ist nicht nur voller Abenteuer, sondern auch voller Gefahren, die aus lausbubenhaftem Spiel im Handumdrehen blutig tödlichen Ernst machen. Und nach ungezählten Sommern ist es Jamie leid, immer neue Gräber zu graben, während Peter die Toten ignoriert, um sein ewiges Spiel nicht zu trüben.

Cover von Christina Henry: Lost Boy

Lost Boy ist von der romantisch verklärten Welt eines Disney-Pans sehr weit entfernt. In Christina Henrys Interpretation des Klassikers von James Matthew Barrie zeigt sich nur zu Beginn noch ein schon stumpf gewordener Rest des vermeintlichen Glanzes der märchenhaften Zauberwelt Peter Pans, in der niemand seiner „Jungs” erwachsen werden muss. Es geht auch gar nicht so sehr darum, ob sie erwachsen werden müssen, vielmehr darum, ob sie es dürfen. Sie dürfen es nämlich nicht; ebenso wie sie die Insel nicht verlassen oder Peters Freundschaft ablehnen dürfen.

Nie aufzuwachsen, immer ein Junge bleiben zu müssen und die Augen vor einer brutalen Wirklichkeit zu verschließen, ist eine Horrorvision, die Christina Henry in aller psychologischer Subtilität und viszeraler Deutlichkeit ausbuchstabiert. Henrys Peter Pan ist nicht nur eine Allegorie auf die naive Idee ewiger Jugend, sondern die monströse Personifikation von Narzissmus, Realitätsflucht und Selbstgerechtigkeit. Henrys Peter reicht es nicht, wie in der Version von Berrie, die Reale Welt einfach zu vergessen, um ewig jung zu bleiben: Für ihn muss Blut fließen. Das Blut unverdorbener Jugend.

Henrys Lost Boy ist eine bis zur letzten Seite fesselnde, schockierende und erschütternde Interpretation der Geschichte der ewigen Jungs im Nimmerland — und absolut keine Kindergeschichte.

Christina Henry: Lost Boy
London: Titan Books 2017
318 Seiten, Taschenbuch
7,99 £


Glücklich ist, wer vergisst: Willi Winklers „Das Braune Netz“

„Das Außen-, das Justiz- und zuletzt das Innenministerium wurden auf ihre Geschichte hin durchleuchtet, und überall fanden sich, o Wunder: Nazis. Nazis saßen im Bundestag, in den Länderparlamenten, in sämtlichen Behörden und Ministerien, in der Polizei, in der Justiz, sie saßen in der Regierung und sie saßen zu Gericht, in manchen Fällen sogar über ihre ehemaligen Opfer. Die frühe Bundesrepublik war ein einziger Skandal. Eine Partei der früheren NSDAP-Mitglieder hätte bis in die sechziger Jahre die größte Fraktion im Bundestag stellen können. Neunzig Prozent aller Berufssoldaten der neuen Bundeswehr hatten bereits in der alten Wehrmacht gedient. Der Boden, über den er geht, ist unheimlich, schreibt Golo Mann. Aber die frühe Bundesrepublik hat schnell gelernt, auf diesem Boden und auf ihrer Vergangenheit zu leben, gern auch zu tanzen.“ (S. 15f.)

1945 lag Deutschland und mit ihm Europa in Trümmern. Das „1000-jährige Reich“ war nach zwölf Jahren untergegangen und hinterließ den Überlebenden eine moralische Hypothek, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit kaum zu fassen, geschweige denn zu tragen schien. Wie am Morgen nach dem Exzess starrte eine erwachte Bevölkerung auf den Scherbenhaufen und konnte sich vermeintlich nicht erinnern, wie es dazu hatte kommen können.

Gleichzeitig musste es irgendwie weitergehen, ein neuer Staat aufgebaut und gegen den Rückfall in den Exzess verteidigt werden. Das „Dritte Reich“ war zwar besiegt, nicht aber der Nazismus. Die Überlebenden des alten Systems wurden Teil des Neuen. Während in Nürnberg die Hauptverantwortlichen öffentlichkeitswirksam verurteilt und größtenteils hingerichtet wurden, gelang es Millionen von Mittätern und Mitläufern, in das neue, nun endlich demokratische System zu wechseln. Immerhin war ihre Expertise gefragt. Nicht alle Positionen konnten mit Exilanten und Widerständlern besetzt werden.

Willi Winkler arbeitet in Das Braune Netz minutiös heraus, an welchen Stellen es ehemaligen Nazis gelang, sich in der Bundesrepublik einzurichten. Das geschah mal aus Opportunismus, mal aus Pragmatismus; mal wurden Lebensläufe geschönt, manchmal neu erfunden und zweifellos gab es viele ehemalige Nazis, die sich glaubhaft geläutert aus Überzeugung am Aufbau des neuen Staats beteiligten. Dennoch richtete die rasche Assimilation der Kriegsverbrecher einen kaum zu beziffernden moralischen Schaden an. Diesen zu verdeutlichen ist das Ziel von Winklers Arbeit.

„Hätte [Hanns Martin] Schleyer neben [Reinhard] Heydrich im Auto gesessen und wäre mit ihm gestorben, wäre der Mord an ihm jedenfalls später eine politisch und moralisch zu rechtfertigende Tat gewesen. SS-Untersturmführer Schleyer saß nicht neben ihm, er kannte Heydrich vermutlich nicht näher, aber er wohnte in Prag in einer von Juden requirierten Villa, konnte rechtzeitig vor dem Eintreffen der sowjetischen Truppen fliehen, kam mit drei Jahren Internierung davon (im Lebenslauf höflich umschrieben als Kriegsgefangenschaft), stieg bei Daimler-Benz in den Vorstand auf und wurde der Arbeitgeberpräsident, der mit Bundeskanzler Helmut Schmidt ebenso gut verhandeln konnte wie mit dem ehemaligen Kommunisten Willi Bleicher, dem Stuttgarter IG-Metall-Chef, der das „Dritte Reich“ zum größten Teil im KZ Buchenwald verbracht hatte.“ (S. 23f.)

Winklers Buch ist eine Fleißarbeit, die unermüdlich Nazi-Vergangenheiten auflistet. Kleine Mitläufer und handfeste Mittäter, die sich als erstaunlich moralisch flexibel erwiesen und mal mehr, mal weniger auskömmliche Posten in der neuen Bundesrepublik besetzten. Weich gefallen sind sie fast alle; geschützt von Amnestie und allgemeinem Verdrängungsimpuls war ihre Nazi-Vergangenheit kaum je ein Einstellungshindernis. Die Karrieren vor dem Krieg sind dabei so vielfältig wie die in der Bundesrepublik: Hans Globke (Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze und Hauptverantwortlicher für die Namensänderungsverordnung, später Chef des Bundeskanzleramts und rechte Hand Adenauers), Reinhard Gehlen (Generalmajor der Wehrmacht, Gründer der „Organisation Gehlen“, die später mit ihm als Chef zum BND wurde), Hermann Höcherl (NSDAP seit 1931, Leutnant der Wehrmacht, Innenminister 1961-65), Theodor Saevecke (SS-Hauptsturmführer, NSDAP seit 1929, BKA seit 1952, Einsatzleiter während der Besetzung der Spiegel-Redaktion 1962) und viele andere mehr.

„‚Ich bin gezwungen worden, ‚Jud Süß‘ zu drehen‘, trotzte dagegen der arme Verfolgte. ‚Warum soll ich mich jetzt dafür entschuldigen?‘ Veit Harlaan hatte wirklich schwer zu tragen, erst an seinem Ruhm im ‚Dritten Reich‘ und danach wieder an seinem Ruhm im ‚Dritten Reich‘. Der Gutachter Herbert Kraus empfahl, ‚den Mantel des Vergessens über das Dunkel der hinter uns liegenden Zeit zu bereiten‘. Worüber beklagten sich die Juden eigentlich? Der Vorsitzende Richter Walter Tyrolf verfiel in der Urteilsbegründung auf das irrsinnigste aller Argumente: ‚Hätten die Juden nicht schon damals, 1940/41, ins Kino gehen und Strafantrag wegen Beleidigung stellen können?‘ Doch, genau so heißt es in der Begründung des Landgerichts Hamburg, Schwurgericht II, Urteil vom 29. April 1950.“ (S. 236)

Das Braune Netz ist gefüllt mit solchen Beispielen. Sie provozieren ein kaum zu greifendes Unverständnis für die groteske historische Ungerechtigkeit, die in einer ebenso historischen Perversion einen der freiesten, erfolgreichsten und international geachtetsten Staaten Europas hervorbrachte. Tyrolf (NSDAP seit 1937), der als Staatsanwalt an Todesurteilen wegen „Rassenschande“ mitwirkte, wehrte sich übrigens gegen ein Ende der 50er gegen ihn laufendes Ermittlungsverfahren mit der Begründung, er sei „der Letzte, welchem man den Vorwurf machen könnte, dabei sich ‚die Hände mit Blut befleckt‘ zu haben“ (S. 237). Das Verfahren wurde eingestellt.

Winkler neigt zur spitzen, nicht immer ganz wertungsfreien Formulierung. Er ist ein scharfer Beobachter, der Sachverhalte vorlegt und erschütternde Details aus den Biographien sprechen lässt, die von den Personen selbst aus ersichtlichen Gründen häufig lieber verschwiegen worden waren. Winkler blickt unnachgiebig auf ein sumpfiges Milieu, das gute Arbeit geleistet hat, wenig beachtet zu werden. Das liest sich fesselnder als mancher Kriminalroman, wirkt zuweilen aber etwas atemlos, wenn Winkler von Anekdote zu Anekdote springt, als würde die Kaskade der moralischen Ungeheuerlichkeiten gar nicht mehr versiegen.

Sie ist in der Tat lang, die Liste dieser Ungeheuerlichkeiten. Spiegel-Affäre und Wiederbewaffnung, Amnestie und Freisprüche für Kriegsverbrecher, der öffentliche Umgang mit NS-Opfern und nicht zuletzt der fast fanatische Antikommunismus der frühen Bundesrepublik waren letztlich kaum ohne die Beteiligung der „Alten Kämpfer“ denkbar. Die junge Bundesrepublik suchte nach dem Kitt, um den neuen Staat zusammenzuhalten und griff nach der bewährten Methode des Zusammenschlusses durch Ausgrenzung.

Über die paranoide Verfolgung des Kommunismus und dessen Dämonisierung zum absoluten Staatsfeind – von Winkler präzise als Hauptargument herausgearbeitet – gelang es nicht nur, die Bundesrepublik als treuen Verbündeten der Westmächte zu etablieren und die alten Kader (wegen ihrer wiederum unentbehrlichen Erfahrung) zu rehabilitieren, sondern auch – sozusagen als bitterer Treppenwitz – eine makabere Traditionslinie der Identität über Negativabgrenzung herzustellen: vom NS-Antisemitismus über den Antikommunismus bis zum heutigen Rechtspopulismus. Ob etwa die über Jahrzehnte hartnäckig als Sündenbock genutzte „Rote Kapelle“ in der Bundesrepublik überhaupt existierte, geschweige denn eine Gefahr darstellte, spielte damals ebenso wenig eine Rolle, wie der Wahrheitsgehalt heutiger Propaganda gegen Zuwanderer.

Winklers Arbeit mag angesichts der suggerierten Alternativlosigkeit der zeitgeschichtlichen Abläufe zu Verdrossenheit und Entsetzen verleiten – und doch steht über ihr ein großes „Trotzdem“. Der damals so fragile Rechtsstaat ist nicht zusammengebrochen; das Reaktionäre hat sich nicht durchsetzen können. Trotz der moralischen Hypothek entstand aus den Trümmern des „Dritten Reichs“ die heutige Bundesrepublik Deutschland. Es ist Winklers Verdienst, diesen Widerspruch schonungslos aufzuzeigen und zugleich einen Erklärungsversuch anzubieten. Neben den von Winkler aufgefahrenen Beispielen des Opportunismus und Verdrängens kommen die zivilgesellschaftlichen Veränderungen, die letztlich zur Überwindung des „braunen Netzes“ geführt haben, allerdings etwas zu kurz. Das Braune Netz ist dennoch ein Beitrag zum Verständnis der Überlebenslügen der frühen Bundesrepublik – und ein ebenso wichtiges Puzzleteil zum Verständnis der Gegenwart.

Willi Winkler: Das Braune Netz. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde
Berlin: Rowohlt 2019
416 Seiten, gebunden
22,00 €


Catering an Audience: John Greens „Turtles all the Way Down“

„By cell count, humans are approximately 50 percent microbial, meaning that about half of the cells that make you up are not yours at all. There are something like a thousand times more microbes living in my particular biome than there are humans on earth, and it often feels like I can feel them living and breeding and dying in and on me. I wiped my sweaty palms on my jeans and tried to control my breathing. Admittedly, I have some anxiety problems, but I would argue it isn’t irrational to be concerned about the fact that you are a skin-encased bacterial colony.“ (S. 3, Herv. im Orig.)

Ich habe John Green vor einigen Jahren als einen dieser nerdigen Brüder kennengelernt, die sich auf YouTube lustige Videos schicken. John war der, der sich gelegentlich mit Filzstiften bemalte, später einen kleinen Sohn bekam und wohl noch immernoch geradezu existenzielle Höhenangst hat.

Später habe ich dann herausgefunden, dass er nicht nur klug über Literatur spricht, sondern auch selbst Bücher schreibt. Green hatte gerade seinen jüngsten Roman The Fault in our Stars fertiggestellt, der dann wohl auch recht gut ankam. Gut, das ist dann etwas hochgkocht und mittlerweile kann er auf Lesereise wohl Stadien füllen, aber in meiner kleinen Welt ist er immernoch einer dieser Brüder von YouTube.

John Green -

Mit Turtles all the Way Down erschien dann im vergangenen Jahr sein jüngster Roman, der ebenfalls auf dem besten Wege ist, zum Kultbuch zu werden.

Aza, Teenager kurz vor Ende der Highschool, Halbwaise und geplagt von einer psychischen Störung, die ihr einzureden versucht, sie könne sich an jeder Ecke mit dem gefährlichen Balterium Clostridium difficile infizieren und letztlich an einem simplen Kuss sterben, ist dieses Mal die Hauptfigur der Geschichte. Es geht um ihr Verhältnis zu Davis Pickett, einem Freund aus Kindertagen, dessen steinreicher (und latent krimineller) Vater verschwunden ist. Am Verschwinden von P. Sen. ist eine kleine Krimihandlung angeknüpft, die aber schnell versickert und insgesamt nebensächlich bleibt. Im Vordergrund stehen die verwirrenden Emotionen von Teenagern, die innere Zerrissenheit von Aza, ihr Umgang mit und Scheitern an der psychischen Erkrankung sowie die Frage, ob man einen Einfluss darauf hat, wer man ist oder ob nicht die Verhältnisse, Zufälle (oder ein millardenstarkes bakterielles Mikrobiom) das eigene Denken, Handeln und Schicksal bestimmen.

Stilistisch bleibt John Green auf bekannt hohem Niveau. Seine Figuren sind glaubhaft, lebensnah und schlagfertig, die Dialoge überzeugen ebenso wie Azas Innensicht und die Schilderung ihrer Krankheit. Auch der für Green typische, leicht schwarz-fatalistische Humor kommt nicht zu kurz.

Insgesamt bleibt die Handlung aber leider zurückhaltend und vorhersehbar, im Grunde gibt es eigentlich kaum etwas, das wirklich passiert. Auch emotionale Achterbahnfahrten wie in den Stars oder im Erstling Looking for Alaska gibt es dieses Mal nicht. Insgesamt bleibt Turtles daher zu zahm, zu sehr an der Darstellung des Musterbilds vom „anxious Teenager“ verhaftet. Selbstredend sind psychichische Erkrankungen nicht nur ein Topos und in jedem individuellen Fall ernstzunehmen. Aza als literatische Figur hingegen wirkt mir ein bisschen zu sehr, als hätte Green nur seine Kernzielgruppe bedient. Für Nicht-mehr-Teenager hätte es ruhig etwas mehr sein dürfen.


Technobabble: Lothar Weises „Unternehmen Marsgibberellin“

„Graue Schneewolken hielten den ganzen Tag die Dämmerung des Morgens fest. Ein naßkalter Wind wehte ein Gemisch von Schnee und Regen auf die Betonbahn, die sich mit einer gefährlichen Eisschicht überzog. Der Elektro-Eilbus Schwerin–Rostock hatte die Außenbezirke Schwerins verlassen. Verschneite Rosengebüsche zu beiden Seiten der Schnellstraße wandelten sich in ein gleichmäßiges weißes Band. Mit dreihundert Kilometer Stundengeschwindigkeit jagte das Fahrzeug, vom Luftpolster getragen, dahin. Schnittige Eissegler auf dem Schweriner See, spielzeughaft kleine Häuser entfernter Agrarstädte, bepuderte Wälder und schneebedeckte Felder glitten wie die Bilder eines Films am Fenster vorbei.“ (S. 23)

Roland Blüthner, Veteran der dritten Marsexpedition, scheint ein gebrochener Mann. Ein folgenschwerer Unfall auf dem Mars kostete ihn fast das Leben, der Kontakt zu einer gefährlichen Anomalie auf dem roten Planeten und dort wachsenden Pflanzen ließ ihn in kürzester Zeit altern und zehrte seinen Körper aus. Der unbekannte Stoff, den Blüthner von den Marspflanzen mitbrachte, erwies sich als wirkungsvolles Rauschgift, das den Wissenschaftler in eine lethargische Abhängigkeit zwingt. Erst als Blüthner von einem längeren Kuraufenthalt zurückkehrt, entdeckt er die wahre Bedeutung des Stoffes: Unter bestimmten Voraussetzungen erzeugt er bei Pflanzen Riesenwuchs – eine phänomenale Chance für die Landwirtschaft, um die Erträge drastisch zu erhöhen.

Lothar Weises phantastischer Roman Unternehmen Marsgibberellin schildert die angestrengten Versuche der Forscherkollektive in Deutschland und Russland, das Geheimnis des neuen Wuchsstoffes zu entschlüsseln. Hydroponikkulturen, Feldversuche, chemische Analysen – Die Forscher lassen nichts unversucht, können aber lange keine schlüssigen Ergebnisse erzielen. Insbesondere die stoische, fast konservative Systematik des Institutsleiters bringt keine nennenswerten Ergebnisse. Erst von Blüthner „illegal“ durchgeführte Feldversuche sorgen für erneuten Riesenwuchs, ohne jedoch das Geheimnis des Marsgibberellins preiszugeben. Da die Vorräte zur Neige gehen, soll Nachschub beschafft und das Wachstum der Marspflanzen direkt untersucht werden, weshalb es im letzten Drittel des Romans noch eine weitere Marsexpedition gibt.

Für einen Science Fiction Roman, der den Mars im Titel und eine Expedition dahin zum Thema hat, kommt Weises Roman erstaunlich lange ohne Raumfahrt aus. Der überwiegende Teil der Handlung spielt sich in der Forschungsstation Warin und auf den umliegenden Feldern ab. Dabei ist erkennbar, dass sich Lothar Weise die Klassifizierung seines Textes als „wissenschaftlich-phantastischer Roman“ sehr zu Herzen genommen hat. Während man sehr ausführlich die Überlegenheit der fast vollständig automatisierten Technologie vorexerziert bekommt, vertiefen sich die Figuren immer wieder in wissenschaftliche Fachsimpelei. Dabei sind die Unterhaltungen absolut interdisziplinär, ohne dass erst größere Wissenslücken geschlossen werden müssen. Das in der DDR seit 1959 propagierte Bildungsideal der polytechnischen Ausbildung scheint in Weises Vision also aufzugehen. Die Tiefgründigkeit der Unterhaltungen scheint indes zu belegen, dass Weise seine Hausaufgaben gemacht und den Stoff gründlich recherchiert hat. Hat der Leser aber kein Diplom in Biochemie, sind viele der Ausführungen und Exkurse in Chemie, Physik, Pflanzenkunde und Agrarwissenschaft aber nur umständliches Technobabble und wirken reichlich angestrengt, so als wolle der Autor seinen Lesern neben guter Unterhaltung gleich noch eine Weiterbildung in Biochemie präsentieren.

Dabei erscheint die präsentierte Welt durchaus überzeugend. Fast alles ist elektrifiziert und wird von hocheffizienten, sauberen und sicheren Atomkraftwerken betrieben, die kaum annähernd an der Auslastungsgrenze arbeiten. Der Mensch hat die Jahreszeiten überwunden und kann dank modernster Agrartechnik fast das gesamte Jahr hindurch schnell wachsende Pflanzen anbauen oder im Winter ganze Äcker beheizen. Wissenschaft und Fortschritt werden absolut positivistisch betrachtet; die Technologie hat keinerlei Nebenwirkungen. Darüber hinaus ist der Fortschritt in seinem Lauf nicht aufzuhalten, auch wenn dafür Teile der Natur unwiederbringlich zerstört werden müssen. Weises Schilderungen sind futuristisch, aber nicht völlig unrealistisch. Natürlich ist Marsgibberellin eine Form von Unobtainium, ansonsten kommt die Technologie aber ohne größere Logikzugeständnisse aus. Vollautomatische und autonome Erntemaschinen sind heute keine Zukunftsmusik mehr, lediglich die Atomenergie hat ihren Heiligenschimmer eingebüßt. Etwas kurios ist die Darstellung aus heutiger Sicht allerdings schon: Während Video-Telefone in Weises Zukunft ganz selbstverständliches Kommunikationsmittel sind, scheint ihm das Konzept, Text elektronisch anders als über Morsefunk zu übermitteln, völlig fremd.

Wie viele Vertreter seiner Zeit, der Roman stammt aus dem Jahr 1964, kommt auch Unternehmen Marsgibberellin ohne nennenswerten Ost-West-Konflikt aus. Der „damals noch bestehende kapitalistische westdeutsche Separatstaat“ (S. 23) findet nur eine einzige Erwähnung, danach wird ein weltübergreifendes gesamtkommunistisches System suggeriert. Drei Jahre nach dem Mauerbau war der kapitalistische Agent, wie er etwa noch in Horst Müllers Signale vom Mond als Antagonist auftrat, nicht länger notwendig. Zukunftspositivistisch bis in die letzte Faser beschreibt Lothar Weise eine Welt, in der nur noch die Natur, die Elemente und deren Überwindung Gegenspieler der geeinten Menschheit sind. Auch wenn der Roman in seinen Darstellungen der hocheffizienten sozialistischen Landwirtschaft Anklänge an die Produktionsliteratur der DDR hat, kommt Weise ohne den klassischen Wettkampf der Systeme aus. Dass das gezeigte Weltbild überlegen ist, ist als Fakt gesetzt.

Seine Höhepunkte hat der Roman, wenn er sich und die Welt – absichtlich oder nicht – selbstironisch kommentiert, wie im Bericht eines Technikers über einen von ihm gelesenen „Tatsachenbericht“. Diese seien ja „doch meist erfunden“, winkt der Zuhörer ab. Für Schwierigkeiten brauche es keinen Roman, die habe man bei der Erforschung des Marsgibberellins zur Genüge. An anderer Stelle wird dann ganz beiläufig Jesus zum Alien. Eine ganz charmante Art, Religion in einer komplett unreligiösen Welt zu thematisieren:

„Deshalb ist es denkbar, daß unser interstellarer Gast nicht allzu verwundert ist, auf der Erde vernunftbegabte Wesen vorzufinden. Vielleicht hat er im Photonenraumschiff bereits riesige Räume durchmessen. Auf dem Planeten fand er Bewohner, die bei seinem Erscheinen in die Knie sanken und ihn als Gesandten ihrer Gottheit empfingen und verehrten. Seine ihnen unbegreiflichen technischen Hilfsmittel: kaltes Licht zu erzeugen, auf Schwerkraftbrücken über Meere zu laufen, die ihnen unverständlichen Bilder und Töne seines Heimatplaneten empfangen, riesige Fluten zurückzudrängen; seine Fähigkeit, nach modernsten medizinischen Gesichtspunkten schwere, bisher tödliche Krankheiten fast schlagartig zu heilen, ja sogar Tote zu erwecken […] bleiben in den Erzählungen und Überlieferungen dieser Wesen über tausend Jahre lebendig, werden zu einer Art Religion. Der intestellare Gast aber ‚fährt erneut zum Himmel‘, gelangt vielleicht zu anderen Planeten […]“ (S. 194f.)

Von diesen Passagen abgesehen aber bleibt Unternehmen Marsgibberellin eher dröge. Spannung erzeugt der Kampf gegen die Elemente, für einen Abenteuerroman nimmt die Marsexpedition aber zu wenig Raum ein. Die Figuren bleiben außerhalb ihrer ihnen zugedachten Rolle (Pilot, Ärztin, Biologe, Skeptiker, väterliche Führungsfigur, romantischer Sidekick) eher flach und ohne Entwicklung. Weise erschöpft sich zu oft in ausführlichem Fachchinesisch, was den Roman für eine jüngere oder nicht naturwissenschaftlich vorgebildete Leserschaft schwer lesbar und stellenweise sehr langweilig macht. Zumindest kommt der Roman trotz gelegentlicher Schulmeisterei ohne das heute schwer erträgliche Hohelied auf die Überlegenheit des Sozialismus aus. Angesichts der aktuellen Begeisterung für unseren roten planetaren Nachbarn sind Weises Vorstellungen zur Beschaffenheit des Mars aber ganz amüsant zu lesen.

Lothar Weise: Unternehmen Marsgibberellin
Mit Illustrationen von Eberhard Binder
Berlin: Verlag Neues Leben 1964 (=Spannend Erzählt 56)
272 Seiten, gebunden
vergriffen


Am Rande des Krieges – Robert Harris‘ „Munich“

„‚This is the thing, Hugh. This is what we could never grasp in Oxford – because it’s beyond reason; it’s not rational.‘ He waved the cigarette as he spoke, his right hand on the wheel, his eyes fixed on the road ahead. ‚This is what I have learned these past six years, as opposed to what is taught in Oxford: the power of unreason. Everyone said – by everyone I mean people like me – we all said, „Oh, he’s a terrible fellow, Hitler, but he’s not necessarily all bad. Look at his achievements. Put aside this awful medieval anti-Jew stuff: it will pass.“ But the point is, it won’t pass. You can’t isolate it from the rest. It’s there in the mix. And if the anti-Semitism is evil, it’s all evil. Because if they’re capable of that, they’re capable of everything.‘ He took his eyes off the road just long enough to look at Legat. His eyes were wet. ‚Do you see what I mean?'“

Im September 1938 stand der Krieg vor den Toren Europas. Seit dem Frühjahr hatte Adolf Hitler mit planmäßiger Vehemenz die sogenannte Sudetenkrise immer weiter eskaliert, um einen Krieg mit der damaligen Tschechoslowakei zu provozieren. Nach dem „Anschluss“ Österreichs sollten auch die von den Sudetendeutschen bewohnten Gebiete „heim ins Reich“ geholt werden – und ganz nebenbei auch die tschechoslowakischen Befestigungsanlagen und Rüstungsbetriebe. Noch am 28. September 1938 sah alles danach aus, als würde das vom Reich gestellte Ultimatum zu einem Einmarsch der Wehrmacht und unmittelbaren Kriegshandlungen führen.

In diese bedrückende Stimmung, angesichts derer in London Luftschutzanlagen errichtet und Gasmasken angepasst werden, setzt Robert Harris die Handlung seines jüngsten Romans Munich. Auf der einen Seite, in No. 10 Downing Street, sucht die britische Regierung fieberhaft nach einem Weg, den Krieg in Europa zu verhindern oder zumindest aufzuschieben. Auf der anderen Seite, im reichsdeutschen Auswärtigen Amt, gibt man berauscht vom eigenen Aufstieg wenig auf die Bemühungen der Alliierten. Im Mittelpunkt stehen der junge Sekretär und Übersetzer Hugh Legat und sein deutsches Gegenüber Paul von Hartmann, Mitglied einer dem Kreisauer Kreis ähnelnden Widerstandsgruppe und Studienfreund Legats aus Oxforder Zeiten.

Diesen Figuren gibt Harris eine winzige Möglichkeit des „Was wäre wenn“ an die Hand, eine winzige Chance, den Lauf der Geschichte und damit einen erneuten Weltkrieg zu verhindern. Hartmann ist im Besitz eines geheimen Memorandums, das Hitlers wahre Pläne, seine von Rassenwahn und Kriegslust geformte Vision vom „Lebensraum im Osten“, verschriftlicht und den Alliierten die Augen öffnen soll. Angesichts dieser Offenbarung, so der Plan, sollen es die Alliierten auf den Krieg ankommen lassen, um dadurch einen Putsch der vermeintlich wenig kriegswilligen Wehrmachtsführung auszulösen.

Doch Harris bleibt bei den Fakten. Es wird schnell klar, dass seine Protagonisten wenig Chancen haben, sich gegen den Lauf der Geschichte zu stemmen oder sie gar aus dem eingeschlagenen Gleis zu werfen. Munich entfaltet seine Spannung daher nur zum Teil aus der auf Harris-typisch hohem Niveau erzählten Agentengeschichte. Viel überzeugender und auf bedrückende Art fesselnd ist die von Harris geschilderte Stimmung in Europa zwischen Resignation, Widerstand und Fanatismus. In London symbolisieren verstaubte Korridore, altmodische Anzüge und Scotch mit Soda ein im Untergang begriffenes Weltreich, dem mit Neville Chamberlain ein alterndes und vermeintlich schwaches Staatsoberhaupt vorsteht. Im Reich hingegen stampfen machtberauschte Faschisten über die Reste der Kultur und verwandeln Parks in vulgäre Brachialmonumente deutscher Großmannssucht.

Munich wirkt wie ein Schwarzweißfilm, in dem nur die Fackeln und Hakenkreuzfahnen Nazideutschlands koloriert wurden. Der Roman erhält seine volle Bedrohlichkeit weniger durch die greifbare Überheblichkeit der Nazigrößen und die latente Gewalttätigkeit der SS-Männer im „Führerbau“, als vielmehr durch die historische Realität. Der Leser weiß um die Vergeblichkeit der Anstrengungen Chamberlains und Hartmanns. Es wird keinen Aufstand der Wehrmacht geben und auch Hitlers Zugeständnisse für einen anhaltenden Frieden in Europa sind angesichts der späteren Eskalation zynische Phrasen. Die Konferenz von München wird heute als letztes Versagen der Appeasement-Politik und Weichenstellung für den Zweiten Weltkrieg begriffen. Für Chamberlain war es der letzte Versuch, sich vor den Millionen Toten des Ersten Weltkrieges zu rechtfertigen und um jeden Preis den Frieden zu erhalten. Als er am 30. September 1938 wieder in England landete, jubelten ihm die Menschen auf den Straßen zu. Nicht einmal ein Jahr später fielen in Polen die ersten Schüsse.

Robert Harris: Munich
London: Hutchinson 2017
342 Seiten, Taschenbuch
£13,99


Büchertour #4: Diener des Rechts und der Vernichtung

Historisch Interessierten ist Fritz Bauer vor allem wegen dessen bedeutsamer Rolle bei der Überführung Adolf Eichmanns nach Israel und den Frankfurter Auschwitz-Prozessen ein Begriff. Da in der bundesdeutschen Vergangenheitsbewältigung in der Regel aber lieber über die erfolgreichen Fälle gesprochen wird, sind die weniger erfolgreichen Anstrengungen Bauers in der Verfolgung von NS-Verbrechen weniger bekannt. Mit einem dieser Fälle, dem sogenannten Schlegelberger-Verfahren, befasst sich Christoph Schneider in seiner Monographie Diener des Rechts und der Vernichtung. Das Verfahren gegen die Teilnehmer der Konferenz von 1941 oder: Die Justiz gegen Fritz Bauer, die der Kulturwissenschaftler am 23. Januar in der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz in Mainz vorstellte.

„Das Schlegelberger-Verfahren ist trotz, oder besser gesagt, wegen seiner eigentümlichen Unsichtbarkeit der Inbegriff jener Momente der NS-Aufarbeitung, denen nichts Vorbildliches zukommt.“ (C. Schneider, S. 14)

Im April 1941 versammelte sich im Berliner „Haus der Flieger“ die vollständige Spitze der damaligen reichsdeutschen Justiz: neben dem Reichspräsidenten, den Oberreichsanwälten und weiteren hohen Vertretern auch die Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte aller Oberlandesbezirke des Deutschen Reichs und der zu diesem Zeitpunkt annektierten Gebiete. Insgesamt weit über 100 Personen der juristischen Elite folgten der Einladung von Franz Schlegelberger – damals Geschäftsführer des Reichsjustizministeriums – nach Berlin.

Zu diesem Zeitpunkt liefen bereits seit 16 Monaten die heute als „Aktion T4“ bekannten Euthanasie-Morde. Die Aktion hatte im gesamten Reichsgebiet die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ zum Ziel – und keinerlei Rechtsgrundlage. Selbst im „Dritten Reich“ waren die Säuberungen unter Kranken und Menschen mit Behinderung strafrechtlich Mord. Die Aktionen wurden daher verschleiert und mit gefälschten Dokumenten nachträglich scheinbar legalisiert. Dennoch kam es im Ablauf immer wieder zu „Störungen“: Gerichte erkundigten sich nach plötzlich verschwundenen Angeklagten, Hinterbliebene zweifelten Todesumstände an, Prozesse um Nachlässe zogen sich hin.

Da schon Schlegelbergers Vorgänger, Reichsjustizminister Franz Gürtner, auf die fehlende Rechtsgrundlage hingewiesen hatte, mit seinem Ersuchen um einen entsprechenden Erlass aber gescheitert war, entschied sich Schlegelberger zu einem außergewöhnlichen Verfahren: Er lud die gesamte juristische Führung nach Berlin und ließ ihnen von zwei hochrangigen Vertretern der zuständigen Zentraldienststelle T4 das gesamte Mordprogramm in aller Deutlichkeit erläutern. Anschließend wurde der Beschluss verkündet, sämtliche als „Störung“ aufzufassende Verfahren künftig ohne weitere Bearbeitung direkt an allen Instanzen vorbei ans Reichsjustizministerium weiterzuleiten. Damit einigten sich die Juristen auf eine Aussetzung des geltenden Rechts, ohne dass dies in irgendeiner Form kodifiziert oder verordnet wurde.

Dies ist aus mehreren Gründen bemerkenswert: Während andere, ähnliche Entscheidungen im kleinen Kreis getroffen wurden (die Wannsee-Konferenz hatte 15 Teilnehmer), versammelten sich in Berlin weit mehr als 100 hochrangige Justizvertreter. Die bisherige Geheimhaltung der Morde wurde aufgegeben; auf der Konferenz von 1941 wurde Klartext gesprochen und die gesamte Mord- und Verschleierungspraxis erläutert. Die Vertreter der Konferenz schufen in einer einzigartigen Plenarsituation eine Art Recht vorbei an den üblichen Wegen. Und nicht zuletzt: Die Konferenzteilnehmer gaben durch ihre allgemeine und widerspruchslose Zustimmung eine im besonderen Maße schutzbedürftige Bevölkerungsgruppe kollektiv der Vernichtung preis und ermöglichten dadurch den reibungslosen Ablauf der „Aktion T4“.

Umso bemerkenswerter, dass Christoph Schneider mit seinen Nachforschungen eine bis heute blinde Stelle in der NS-Aufarbeitung präsentiert. Dabei sind Schneiders Erkenntnisse keineswegs wirklich neu. Schon 1947/48 wurde die Konferenz von 1941 im Hadamar-Prozess in Frankfurt aktenkundig. Zu einem Verfahren gegen die Konferenzteilnehmer kam es unmittelbar nach dem Krieg jedoch nicht. Erst 1960 wurde auf persönliche Initiative von Fritz Bauer hin in Frankfurt ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, dass jedoch umgehend nach Stuttgart abgegeben wurde und dort auf die Halde kam. Nach erheblichen Verschleppungen und Behinderungen konnte erst im Jahr 1967 mit den Voruntersuchungen begonnen werden; zu diesem Zeitpunkt gegen ganze 13 ehemalige Konferenzteilnehmer.

Diese reagierten entsprechend empört darauf, dass man das Recht auf sie zurückwirken ließ. Schneider legt in seiner Arbeit ausführlich die wiederkehrenden Argumentationsmuster der Beteiligten dar, die sich allzu oft dahinter versteckten, nur Teil einer unaufhaltsamen Maschinerie gewesen zu sein, und am Terror von SS und Gestapo ohnehin nichts hätten ändern können. Schweigen sei nicht als Zustimmung zu deuten, eine Diskussion der Vorgehensweise weder gewünscht noch möglich gewesen. Doch auch nach Prozessaufnahme kam es zu Verschleppungen, Prozessbehinderungen und Verzögerungen. Immer mehr der Konferenzteilnehmer starben oder ließen sich prozessunfähig schreiben. Im Jahr 1970, zehn Jahre nach Prozessbeginn und zwei Jahre nach dem Tod Fritz Bauers, wurde das Verfahren mit einem neunzeiligen Beschluss eingestellt, die vier verbliebenen Konferenzteilnehmer außer Vollzug gestellt. In der Öffentlichkeit war das Verfahren zu diesem Zeitpunkt schon in Vergessenheit geraten.

„Die Frage der allfälligen Dienstbarkeit des Rechts für jede Herrschaft kam entweder gar nicht zur Sprache oder wurde als Frage individueller Verfehlungen erörtert. Wenn aber das gesamte Corps der höchsten Juristen einer modernen Nation eine gegen jede Rechtsauffassung verstoßende systematische und anhaltende Mordpraxis hinnimmt und deckt, stehen größere Fragen an als die nach persönlichem Fehlverhalten.“ (C. Schneider, S. 11)

Schneiders Arbeit ist an dieser Stelle noch nicht beendet, sondern erweitert sich um eine dritte Zeitebene. Im Jahr 1978 wird die Anfrage des Richters Helmut Kramer „nach der eventuellen Existenz eines solchen Strafverfahrens“ zuerst ohne Auskunft zurückgewisen. Nachdem sich Kramer die Einsicht in die Dokumente erstritten hatte, erhielt er sparsame 95 Blatt Kopien aus den insgesamt 47 Bände umfassenden Prozessakten für den von ihm angestrebten Beitrag in einer juristischen Fachzeitschrift. Kramers Beitrag erzeugte dann tatsächlich Aufmerksamkeit, vor allem aber schwere Anschuldigungen eines Teilnehmernachkommens, infolge derer Kramer 1984 ein Zivilverfahren einleitete.

Wieder kam es zu erheblichen Verschleppungen und Verzögerungen. Das Verfahren, in dem auch die Konferenz von 1941 ein wichtiger Gegenstand war, zog sich über insgesamt sechs weitere Jahre hin und endete 1990 klanglos in einem Vergleich. Besonders bemerkenswert: Als Kramer die Akten des Schlegelberger-Verfahrens als Beweismittel anführen wollte, waren diese nicht auffindbar. Angeblich seien sie bei der Überführung an das Amtsgericht Bonn (ein Weg von 150 Metern) verschollen. Erst 1989 tauchten die Akten unter dubiosen Umständen bei der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt auf. Einen wirklichen Abschluss, eine wirklich ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema hat es bis heute jedoch nicht gegeben. „Das Thema ist längst nicht durch“, resümierte Schneider in Mainz.

Schneider führt die juristischen Verstrickungen, Verschleppungen und Behinderungen akribisch, sorgfältig und verständlich auf. Man merkt ihm und seiner Arbeit an, dass er weder Jurist noch Historiker, sondern Kulturwissenschaftler ist. Ihn treiben nicht die juristischen Spitzfindigkeiten um, sondern die berechtigte Frage, wie die komplette juristische Führung des „Dritten Reichs“ aus zum überwiegenden Teil noch im Kaiserreich sozialisierten und gut situierten, einflussreichen Männern, kollektiv den institutionalisierten und systematischen Mord einer ganzen Bevölkerungsgruppe hinnehmen konnte. Spürbar ist aber auch Schneiders Frustration darüber, wie das Thema in der Bundesrepublik von Anfang an unterdrückt und verschwiegen wurde. In den 1960er-Jahren, einer Zeit, die stets als positive Zäsur in der NS-Aufarbeitung betrachtet wird, wurde die Auseinandersetzung mit den Verstrickungen der Justiz in die NS-Verbrechen aktiv unterdrückt und tabuisiert. Bis heute, so Schneiders Fazit, versteht es die Justiz der Bundesrepublik sehr erfolgreich, das Vorhandensein der Thematik unter den Teppich zu kehren.

Mit seiner Arbeit hebt Schneider die Bedeutung des Schlegelberger-Verfahrens für das Verständnis der deutschen Vergangenheitsbewältigung erheblich. Dabei geht es ihm nicht nur um die Widerstände der Justiz, sich mit ihrere eigenen Vergangenheit zu befassen, sondern auch um das Bild Fritz Bauers. Während Bauers Erfolge oft als Musterbeispiel für die positive Auseinandersetzung der Bundesrepublik mit der NS-Vergangenheit aufgeführt würden, seien auch Bauers Misserfolge wichtige Quellen für das Verständnis der bundesdeutschen Widerstände gegen die NS-Aufarbeitung. Zugleich verdeutlicht Schneider die Bedeutung der eigentlichen Konferenz von 1941, die mit Blick auf die Euthanasie-Morde als Beginn des Holocausts die folgenschwere Anpassung der Justiz an den Vernichtungsbetrieb markierte.

Christoph Schneider: Diener des Rechts und der Vernichtung. Das Verfahren gegen die Teilnehmer der Konferenz von 1941 oder: Die Justiz gegen Fritz Bauer
Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Band 30
Frankfurt am Main: Campus Verlag 2017
242 Seiten, gebunden
29,95€

Vortrag und Lesung mit Christoph Schneider fanden am 23. Januar 2018 als Kooperationsveranstaltung der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz mit dem Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. im Rahmen der Veranstaltungsreihe zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2018 statt.


Weltraumschrott: Horst Müllers „Signale vom Mond“

Kürztlich kam mir der kleine „Zukunftsroman“ Signale vom Mond von Horst Müller aus dem Jahr 1960 in die Hände. Angesichts meines Faibles für frühe Science Fiction, insbesonder aus dem Ostblock, versprach das etwas abgegriffene Büchlein kurzweilige Unterhaltung an den Weihnachtstagen. Nun, zumindest die Illustrationen von Heinz Völkel sind einigermaßen launig.

Wir befinden uns in der nahen Zukunft, etwa 20 Jahre nach Ende des Krieges. Die Welt ist geteilt, wenngleich die „Überreste“ des Kapitalismus im Sterben liegen und mit dem Glanz der kommunistischen Staatengemeinschaft nicht mithalten können. Das Rennen um das Weltall hat Amerika verloren. Um die Erde kreist die hochmoderne Raumstation „Kosmos 1“, von deren Startrampe in wenigen Tagen eine bemannte wissenschaftliche Expedition zum Mond aufbrechen soll. Dennoch schießen die Amerikaner quer und können eine eigene Rakete „Phönix“ noch vor der Ost-Mission auf den Mond absetzen. Zwischendurch kam es zu einem Zwischenfall: Der wagemutige und renommierte Journalist Niels Jensen gerät bei einem Außeneinsatz um Kosmos 1 in einen Asteoridenschauer und wird abgetrieben. Merkwürdige Wesen retten ihn und setzen ihn vor dem gelandeten amerikanischen Raumschiff ab. Es kommt zu Verwicklungen und Intrigen, letztlich siegt die kommunistische Gesellschaft und bricht zwei Jahre später zu einer glanzvollen Mission zum Jupitermond Ganymed auf, der als Heimstatt der Außerirdischen identifiziert ist.

Signale vom Mond ist eine Weltraum-Abenteuergeschichte, die – würde man den Roman von seiner politischen Agenda befreien und sprachlich über das Niveau eines Schulaufsatzes heben – vielleicht unterhalten könnte. So aber ist die Geschichte um den heroischen Reporter ziemlich belanglos, da sie letzlich nur als Vehikel dient, die technologische, moralische und ideelle Überlegenheit des Ostens über den Westen zu demonstrieren.

Müllers Agenda ist dabei nicht einmal besonders elaboriert: Der Osten steht für die kollektive Menschheit (eine Weiterentwicklung von Ulbrichts „sozialistischer Menschengemeinschaft“), Gemeinschaft, Optimierung und eine helle Zukunft; während im Westen Kapital, Machtsucht, Eigennutz und Korruption herrschen. „Noch immer mächtige Finanzgruppen“ (S. 72) halten die Fäden einer scheinbar völlig machtlosen Regierung in der Hand, einzelne Charaktere sind nur auf den eigenen Vorteil bedacht, korrupt und suchtgesteuert. Im Prinzip ist jeder käuflich, finstere Ziele aller Art bis zur Erklärung offener Kampfhandlungen lassen sich ganz einfach mit der nötigen Menge Dollars erreichen. Wenig überraschend, in seiner Plumpheit aber doch bemerkenswert, ist die aggressive Ablehnung von Religiösität, aus der heraus Müller ausgerechnet tibetanische Mönche zu terroristischen Handlangern der Amerikaner macht.

Die Darstellung der Konfliktparteien ist ziemlich eindeutig.

Der Ostblock hingegen ist technologisch einwandfrei, überlegen und moralisch integer. Die kommunistische Weltgemeinschaft arbeitet zum Wohle aller uneigennützig zusammen und meistert den technologischen Fortschritt. Mit der Vorstellung von Aerotaxis und Bildtelefonen reiht sich Müller in damals gängige SciFi-Vorstellungen ein, ebenso wie mit dem scheinbar grenzenlosen Vertrauen in die Atomkraft, deren unendliche, saubere und sichere Energie alle Versorgungsprobleme gelöst hat. Aus heutiger Sicht ebenso interessant ist das absolute Vertrauen in die fast vollständige Automatisierung von Steuerungsprozessen und Berechnungen. Kurios: Nachrichten werden trotz aller Automation und Funk-Bild-Technik weiterhin per Rohrpost zugestellt.

Obwohl erst 1960 erschienen setzt Signale vom Mond mit seiner Schulbuch-Didaktik und dem sehr monochromen Weltbild die Ideale und den Geist der frühen DDR-Aufbauliteratur der 50er fort. Diese idealisierte eine sich schnell entwickelnde sozialistische Gesellschaft und machte sich die „ständige Entfaltung des realkommunistischen Wesens der neuen Gesellschaft“ (offizielle DDR-Darstellung) zum Thema. Man wollte mit der Literatur nicht nur einen Beitrag zum Aufbau der „sozialistischen Nation“ leisten, sondern gleichzeitig eine „sozialistische Nationalliteratur“ erschaffen, die fürderhin als „sozialistische Klassik“ Modellcharakter für die Literatur eines wiedervereinigten Gesamtdeutschlands unter kommunistischer Führung dienen sollte. Mit dem Alltag der Menschen – oder anspruchsvoller Literatur – hatte das jedoch überwiegend nichts zu tun.

Signale vom Mond versetzt den Aufbauroman aus der sozialistischen Produktion in eine nahe Zukunft, in der alle Menschen der Erde – zumindest des geläuterten und „besseren“, weil kommunistischen, Teils – gemeinsam Neues zu Gunsten der Menschheit schaffen. Auch die Erforschung des Alls ist ein kollektives Projekt. Gleichzeitig krankt der Roman am gleichen Problem wie die frühen Produktionserzählungen: Den Aufbau unternehmen Mitglieder der Intelligenz, das eigentlich herrschende Proletariat findet im Roman keine Erwähnung und dient allenfalls als Handlanger und Nebenfigur.

Ähnlich ergeht es übrigens den Frauen, denen in der kommunistischen Weltgemeinschaft zwar durchaus Erfolg in der Wissenschaft und Forschung zugetraut wird, ohne sie jedoch aus dem Fräuleinschema herauszuheben oder ihnen gar Führungspositionen einzugestehen. Einfluss auf die Handlung haben die beiden (!) Frauenfiguren keinen, sie dienen lediglich der „Liebesgeschichte“, deren Skript „Reporter macht sich über Wissenschaftlerin lustig, diese erkennt nach seinem Verschwinden ihren (!) Fehler und verliebt sich in Abwesenheit“ an Unerträglichkeit kaum zu überbieten ist.

Letztlich entspricht der Roman genau der Kritik von Eduard Claudius, der seinerzeit nach einer von ihm eingeläuteten Welle von Aufbauromanen den Anspruch der politischen Führung und Verleger kritisierte: Manche glaubten, so Claudius, „der Schriftsteller sei einem Computer ähnlich, in den man die Programmierungskarte hineinstecken könne, und blitzschnell, ehe man sich’s versieht, komme der fertige, nach Wunsch geschneiderte Roman heraus: ein Teil positiver Held in strahlend heller Sonne, zur notwendigen Kontrastierung ein wenig gewölkt, ein Teilchen wohldosierter Liebe, wie sie halt üblich ist, natürlich ein Gegenspieler, dieser aber schwach, schlecht und zuletzt unterliegend.“[1]

Horst Müller: Signale vom Mond
Bautzen: Domowina Verlag 1960.
202 Seiten, gebunden
vergriffen

[1]  (Zitiert nach: Emerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Berlin: Aufbau Taschenbuch 2005, S.139f.)


Zum letzten Mal per Anhalter durch die Galaxis: Douglas Adams‘ „Lachs im Zweifel“

„Meine Lieblingsgeschichte ist, daß Branwell Brontë, der Bruder von Emily und Charlotte, an einem Kaminsims lehnend stehend gestorben ist, um zu beweisen, daß so was machbar ist.

Das stimmt natürlich nicht ganz. Meine absolute Lieblingsgeschichte handelt davon, daß junge Faultiere so ungeschickt sind, daß sie statt nach Ästen oft nach ihren eigenen Armen und Beinen greifen und dann vom Baum fallen. Dies hat jedoch nichts mit dem zu tun, was mich gerade beschäftigt, weil es mit Faultieren zu tun hat, wohingegen die Geschichte über Branwell Brontë sich um Schriftsteller dreht und darum, daß man sich wie eine Leiche auf Urlaub fühlt und irgend etwas tut, nur um zu beweisen, daß es machbar ist.“ (S. 144)

Meine persönliche Lieblingsgeschichte ist die, in der ein gewisser Douglas Noël Adams erzählt, wie er einmal versuchte, das Tauchen mit einem Mini-U-Boot und Mantarochen zu vergleichen. Dabei beschreibt er ganz nebenbei dieses ganz besondere Lächeln der Australier, das man Down Under ausschließlich für Engländer reserviert hat, weil nur die es fertig bringen,  ihre Verbrecher als Höchststrafe aus dem nebelig-grauen England nach Australien zu verbannen – wo sie vielleicht auch ein bisschen surfen können.

Lachs im Zweifel erschien bereits im Jahr 2003 und vereint diese Geschichten unter einem Buchdeckel. Peter Guzzardi, langjähriger Freund von Douglas Adams, hat nach dessen tragischem und viel zu frühen Tod Adams‘ literarischen Nachlass gesichtet und diesen Sammelband herausgegeben, wohl auch als posthume Ehrung des großartigen Erfinders von Per Anhalter durch die Galaxis.

Doch Douglas Adams war mehr als das. Lachs im Zweifel schafft es, uns auch den technikbegeisterten Mac-Nutzer Adams vorzustellen, der den kleinen „Bammeldingern“, jenen unzähligen Adaptern und Kabeln, den Kampf ansagt; den Atheisten Adams, der von seiner trotzdem bestehenden Faszination für Religion spricht, und den Tierschützer Adams, der von Wanderungen im Nashornkostüm zum Kilimandscharo oder eben Tauchfahrten im Great-Barrier-Reef berichtet.

„In Wirklichkeit weiß ich nicht, woher meine Ideen kommen, oder auch nur, wo ich nach ihnen suchen sollte. Kein Schriftsteller weiß das. Das stimmt allerdings nicht ganz. Wer ein Buch über die Paarungsgewohnheiten von Schweinen schriebe, würde schon ein paar ganz gute Ideen aufschnappen, wenn er in einem Plastikregenmantel auf einem Bauernhof rumhängt, aber wenn man Romane schreiben will, dann besteht die einzige Lösung darin, Unmengen Kaffee in sich reinzuschütten und sich einen Schreibtisch zu kaufen, der nicht gleich zusammenbricht, wenn man verzweifelt den Kopf dagegen donnert.“ (S. 75)

Zusammengefasst sind Interviews, Redeauszüge und Essays des Engländers sowie die Anhalter-Kurzgeschichte Jung-Zaphod geht auf Nummer Sicher. Doch von literarisch größerem Interesse sind wohl die ersten elf Kapitel seines letzten, leider unvollendet gebliebenen Romans rund um den skurril-schrägen Privatdetektiv Dirk Gently. Der Roman blieb Fragment, nachdem Adams den Elan verlor und viele der Ideen doch lieber in einem neuen Anhalter-Roman verwenden wollte.

Dazu ist es jedoch nie gekommen. Douglas Adams verstarb am 11. Mai 2001 in Santa Barbara, Kalifornien.

Douglas Adams: Lachs im Zweifel. Zum letzten Mal per Anhalter durch die Galaxis.
Hg. von Peter Guzzardi. Aus dem Englischen von Benjamin Schwarz.
Hamburg: Heyne 2003
320 Seiten, Hardcover
8,95 €


Du hast, Siegfried, scheint mir, etwas zu erzählen: Siegfried Lenz‘ „So zärtlich war Suleyken“

„Der Alarm“, sagte mein Großvater, „ist gekommen zur unrechten Zeit. Könnte man ihn nicht, bitte schön, nach dem Frühstück geben?“
„Es handelt sich“, schrie Trunz, „um einen Alarm auf Schmuggler. Sie sind gesichtet worden an der Grenze. Zu dieser Zeit, nicht nach dem Frühstück.“
„Dann muß ich“, sagte Hamilkar Schaß, „auf den Alarm verzichten.“ (S. 16)

Masuren liege, so stellt Siegfried Lenz in seinen „diskreten Anmerkungen“ am Schluss des Erzählbandes So zärtlich war Suleyken fest, gewissermaßen „im Rücken der Geschichte“ und habe daher bislang praktisch keine größeren Persönlichkeiten von Weltrang hervorgebracht. Dies sieht die dann doch überraschend umfangreiche Liste masurischer Persönlichkeiten auf Wikipedia offenbar anders. Da Lenz selbst in jener Liste vertreten ist, offenbart sich an dieser Stelle gleich ein erster der von Lenz augenzwinkernd und mit großer Herzlichkeit porträtierten masurischen Charakterzüge: hintergründige Bescheidenheit.

So zärtlich war Suleyken erschien 1955 als erster Erzählband des masurischstämmigen Autors und soll eine „zwinkernde Liebeserklärung“ sein an die Region, ihre Menschen und Eigenheiten. In 20 kurzen Erzählungen stellt Lenz das Personal eines kleinen, trotz Namensgleichheit fiktiven Örtchens vor, das repräsentativ jenes „unscheinbare Gold der menschlichen Gesellschaft“ repräsentiere, das dem Autor zufolge die masurische Bevölkerung ausmacht.

Und so zeigt sich Suleyken in den Erzählungen als liebenswerte, verschrobene, zuweilen ins karikaturenhaft Absurde gesteigerte Örtlichkeit. Deren Bewohner trotzen mit einer tief verwurzelten Bauernschläue und bodenständigem Realismus Einflüsterungen, Aberglaube und gewissermaßen allen Annäherungsversuchen von außerhalb. So ist für sie der Zirkus durchaus ein Ereignis, bei dem man sich mit den Nachbarn und Verwandten austauschen, vielleicht ein paar Salzgürkchen naschen und etwas flanieren kann; so recht verstehen, weshalb man in der Manege mit Messern auf die doch ausnehmend höfliche Zirkusbesitzerin werfen sollte, kann man indes nicht.

Der Erzähler, der immer wieder seine teils komplizierten Verwandtschaftsbeziehungen zum Figurenrepertoire beteuert, tritt zwar selbst nie als handelnde Figur auf, ist aber über die Vorgänge in der Stadtgeschichte bestens informiert. Da ihm Lenz Spuren des masurischen Dialekts in den Mund legt und immer wieder durch Zwischenfragen oder Einschübe Mündlichkeit fingiert, wirken die Erzählungen wie fundierte Tatsachenberichte. Das wiederum macht den Charme der Erzählungen aus, dass sie eben nicht von einem Außenstehenden dargeboten werden, der sich vielleicht über die manchmal gar zu schrulligen Bewohner amüsieren könnte. Lenz‘ Figuren sind weder Dorftrottel noch Einfaltspinsel, sie sind fest in ihrem bodenständigen Leben verankert, herzlich und höflich, für jeglichen Firlefanz aber vollständig unzugänglich.

Auf die Frage beispielsweise, ob denn die Prophezeiung der örtlichen Wahrsagerin für den Kneipenwirt Ludwig Karnickel auch in Erfüllung gegangen sei, antwortet dieser mit hintergründiger Schläue: „Es ist, Stanislaw Griegull, alles gekommen wie prophezeit. Nur manchmal, Gevatterchen, hat es gekostet ein wenig Mühe, alles richtig zu machen.“ (S. 110) Lenz nennt diese Eigenheit „unterschwellige Intelligenz“, die mit „landläufigen Maßstäben“ nicht greifbar, nicht näher zu definieren und doch „auf erhabene Weise unbegreiflich“ sei.

So zärtlich war Suleyken ist eine launige, tiefgründige und zutiefst charmante Liebeserklärung an eine heute fast in Vergessenheit geratene Region. Schelmengeschichte und Posse, Gruselepisode und tapsig-dörfliches Liebesidyll wechseln sich, mit ebenfalls wechselndem und sich überschneidendem Figurenrepertoire ab. Es sind fiktive Erinnerungen an ein fiktives Örtchen – und doch machen Lenz‘ Erzählungen ein Stück Geschichte lebendig und ermöglichen einen kleinen, verschmitzten Blick in die Vergangenheit der Masuren.

Siegfried Lenz: So zärtlich war Suleyken
Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 2013
128 Seiten, Taschenbuch
6,95€

Zitiert wurde nach der Ausgabe von 1983.