Technobabble: Lothar Weises „Unternehmen Marsgibberellin“

„Graue Schneewolken hielten den ganzen Tag die Dämmerung des Morgens fest. Ein naßkalter Wind wehte ein Gemisch von Schnee und Regen auf die Betonbahn, die sich mit einer gefährlichen Eisschicht überzog. Der Elektro-Eilbus Schwerin–Rostock hatte die Außenbezirke Schwerins verlassen. Verschneite Rosengebüsche zu beiden Seiten der Schnellstraße wandelten sich in ein gleichmäßiges weißes Band. Mit dreihundert Kilometer Stundengeschwindigkeit jagte das Fahrzeug, vom Luftpolster getragen, dahin. Schnittige Eissegler auf dem Schweriner See, spielzeughaft kleine Häuser entfernter Agrarstädte, bepuderte Wälder und schneebedeckte Felder glitten wie die Bilder eines Films am Fenster vorbei.“ (S. 23)

Roland Blüthner, Veteran der dritten Marsexpedition, scheint ein gebrochener Mann. Ein folgenschwerer Unfall auf dem Mars kostete ihn fast das Leben, der Kontakt zu einer gefährlichen Anomalie auf dem roten Planeten und dort wachsenden Pflanzen ließ ihn in kürzester Zeit altern und zehrte seinen Körper aus. Der unbekannte Stoff, den Blüthner von den Marspflanzen mitbrachte, erwies sich als wirkungsvolles Rauschgift, das den Wissenschaftler in eine lethargische Abhängigkeit zwingt. Erst als Blüthner von einem längeren Kuraufenthalt zurückkehrt, entdeckt er die wahre Bedeutung des Stoffes: Unter bestimmten Voraussetzungen erzeugt er bei Pflanzen Riesenwuchs – eine phänomenale Chance für die Landwirtschaft, um die Erträge drastisch zu erhöhen.

Lothar Weises phantastischer Roman Unternehmen Marsgibberellin schildert die angestrengten Versuche der Forscherkollektive in Deutschland und Russland, das Geheimnis des neuen Wuchsstoffes zu entschlüsseln. Hydroponikkulturen, Feldversuche, chemische Analysen – Die Forscher lassen nichts unversucht, können aber lange keine schlüssigen Ergebnisse erzielen. Insbesondere die stoische, fast konservative Systematik des Institutsleiters bringt keine nennenswerten Ergebnisse. Erst von Blüthner „illegal“ durchgeführte Feldversuche sorgen für erneuten Riesenwuchs, ohne jedoch das Geheimnis des Marsgibberellins preiszugeben. Da die Vorräte zur Neige gehen, soll Nachschub beschafft und das Wachstum der Marspflanzen direkt untersucht werden, weshalb es im letzten Drittel des Romans noch eine weitere Marsexpedition gibt.

Für einen Science Fiction Roman, der den Mars im Titel und eine Expedition dahin zum Thema hat, kommt Weises Roman erstaunlich lange ohne Raumfahrt aus. Der überwiegende Teil der Handlung spielt sich in der Forschungsstation Warin und auf den umliegenden Feldern ab. Dabei ist erkennbar, dass sich Lothar Weise die Klassifizierung seines Textes als „wissenschaftlich-phantastischer Roman“ sehr zu Herzen genommen hat. Während man sehr ausführlich die Überlegenheit der fast vollständig automatisierten Technologie vorexerziert bekommt, vertiefen sich die Figuren immer wieder in wissenschaftliche Fachsimpelei. Dabei sind die Unterhaltungen absolut interdisziplinär, ohne dass erst größere Wissenslücken geschlossen werden müssen. Das in der DDR seit 1959 propagierte Bildungsideal der polytechnischen Ausbildung scheint in Weises Vision also aufzugehen. Die Tiefgründigkeit der Unterhaltungen scheint indes zu belegen, dass Weise seine Hausaufgaben gemacht und den Stoff gründlich recherchiert hat. Hat der Leser aber kein Diplom in Biochemie, sind viele der Ausführungen und Exkurse in Chemie, Physik, Pflanzenkunde und Agrarwissenschaft aber nur umständliches Technobabble und wirken reichlich angestrengt, so als wolle der Autor seinen Lesern neben guter Unterhaltung gleich noch eine Weiterbildung in Biochemie präsentieren.

Dabei erscheint die präsentierte Welt durchaus überzeugend. Fast alles ist elektrifiziert und wird von hocheffizienten, sauberen und sicheren Atomkraftwerken betrieben, die kaum annähernd an der Auslastungsgrenze arbeiten. Der Mensch hat die Jahreszeiten überwunden und kann dank modernster Agrartechnik fast das gesamte Jahr hindurch schnell wachsende Pflanzen anbauen oder im Winter ganze Äcker beheizen. Wissenschaft und Fortschritt werden absolut positivistisch betrachtet; die Technologie hat keinerlei Nebenwirkungen. Darüber hinaus ist der Fortschritt in seinem Lauf nicht aufzuhalten, auch wenn dafür Teile der Natur unwiederbringlich zerstört werden müssen. Weises Schilderungen sind futuristisch, aber nicht völlig unrealistisch. Natürlich ist Marsgibberellin eine Form von Unobtainium, ansonsten kommt die Technologie aber ohne größere Logikzugeständnisse aus. Vollautomatische und autonome Erntemaschinen sind heute keine Zukunftsmusik mehr, lediglich die Atomenergie hat ihren Heiligenschimmer eingebüßt. Etwas kurios ist die Darstellung aus heutiger Sicht allerdings schon: Während Video-Telefone in Weises Zukunft ganz selbstverständliches Kommunikationsmittel sind, scheint ihm das Konzept, Text elektronisch anders als über Morsefunk zu übermitteln, völlig fremd.

Wie viele Vertreter seiner Zeit, der Roman stammt aus dem Jahr 1964, kommt auch Unternehmen Marsgibberellin ohne nennenswerten Ost-West-Konflikt aus. Der „damals noch bestehende kapitalistische westdeutsche Separatstaat“ (S. 23) findet nur eine einzige Erwähnung, danach wird ein weltübergreifendes gesamtkommunistisches System suggeriert. Drei Jahre nach dem Mauerbau war der kapitalistische Agent, wie er etwa noch in Horst Müllers Signale vom Mond als Antagonist auftrat, nicht länger notwendig. Zukunftspositivistisch bis in die letzte Faser beschreibt Lothar Weise eine Welt, in der nur noch die Natur, die Elemente und deren Überwindung Gegenspieler der geeinten Menschheit sind. Auch wenn der Roman in seinen Darstellungen der hocheffizienten sozialistischen Landwirtschaft Anklänge an die Produktionsliteratur der DDR hat, kommt Weise ohne den klassischen Wettkampf der Systeme aus. Dass das gezeigte Weltbild überlegen ist, ist als Fakt gesetzt.

Seine Höhepunkte hat der Roman, wenn er sich und die Welt – absichtlich oder nicht – selbstironisch kommentiert, wie im Bericht eines Technikers über einen von ihm gelesenen „Tatsachenbericht“. Diese seien ja „doch meist erfunden“, winkt der Zuhörer ab. Für Schwierigkeiten brauche es keinen Roman, die habe man bei der Erforschung des Marsgibberellins zur Genüge. An anderer Stelle wird dann ganz beiläufig Jesus zum Alien. Eine ganz charmante Art, Religion in einer komplett unreligiösen Welt zu thematisieren:

„Deshalb ist es denkbar, daß unser interstellarer Gast nicht allzu verwundert ist, auf der Erde vernunftbegabte Wesen vorzufinden. Vielleicht hat er im Photonenraumschiff bereits riesige Räume durchmessen. Auf dem Planeten fand er Bewohner, die bei seinem Erscheinen in die Knie sanken und ihn als Gesandten ihrer Gottheit empfingen und verehrten. Seine ihnen unbegreiflichen technischen Hilfsmittel: kaltes Licht zu erzeugen, auf Schwerkraftbrücken über Meere zu laufen, die ihnen unverständlichen Bilder und Töne seines Heimatplaneten empfangen, riesige Fluten zurückzudrängen; seine Fähigkeit, nach modernsten medizinischen Gesichtspunkten schwere, bisher tödliche Krankheiten fast schlagartig zu heilen, ja sogar Tote zu erwecken […] bleiben in den Erzählungen und Überlieferungen dieser Wesen über tausend Jahre lebendig, werden zu einer Art Religion. Der intestellare Gast aber ‚fährt erneut zum Himmel‘, gelangt vielleicht zu anderen Planeten […]“ (S. 194f.)

Von diesen Passagen abgesehen aber bleibt Unternehmen Marsgibberellin eher dröge. Spannung erzeugt der Kampf gegen die Elemente, für einen Abenteuerroman nimmt die Marsexpedition aber zu wenig Raum ein. Die Figuren bleiben außerhalb ihrer ihnen zugedachten Rolle (Pilot, Ärztin, Biologe, Skeptiker, väterliche Führungsfigur, romantischer Sidekick) eher flach und ohne Entwicklung. Weise erschöpft sich zu oft in ausführlichem Fachchinesisch, was den Roman für eine jüngere oder nicht naturwissenschaftlich vorgebildete Leserschaft schwer lesbar und stellenweise sehr langweilig macht. Zumindest kommt der Roman trotz gelegentlicher Schulmeisterei ohne das heute schwer erträgliche Hohelied auf die Überlegenheit des Sozialismus aus. Angesichts der aktuellen Begeisterung für unseren roten planetaren Nachbarn sind Weises Vorstellungen zur Beschaffenheit des Mars aber ganz amüsant zu lesen.

Lothar Weise: Unternehmen Marsgibberellin
Mit Illustrationen von Eberhard Binder
Berlin: Verlag Neues Leben 1964 (=Spannend Erzählt 56)
272 Seiten, gebunden
vergriffen


Am Rande des Krieges – Robert Harris‘ „Munich“

„‚This is the thing, Hugh. This is what we could never grasp in Oxford – because it’s beyond reason; it’s not rational.‘ He waved the cigarette as he spoke, his right hand on the wheel, his eyes fixed on the road ahead. ‚This is what I have learned these past six years, as opposed to what is taught in Oxford: the power of unreason. Everyone said – by everyone I mean people like me – we all said, „Oh, he’s a terrible fellow, Hitler, but he’s not necessarily all bad. Look at his achievements. Put aside this awful medieval anti-Jew stuff: it will pass.“ But the point is, it won’t pass. You can’t isolate it from the rest. It’s there in the mix. And if the anti-Semitism is evil, it’s all evil. Because if they’re capable of that, they’re capable of everything.‘ He took his eyes off the road just long enough to look at Legat. His eyes were wet. ‚Do you see what I mean?'“

Im September 1938 stand der Krieg vor den Toren Europas. Seit dem Frühjahr hatte Adolf Hitler mit planmäßiger Vehemenz die sogenannte Sudetenkrise immer weiter eskaliert, um einen Krieg mit der damaligen Tschechoslowakei zu provozieren. Nach dem „Anschluss“ Österreichs sollten auch die von den Sudetendeutschen bewohnten Gebiete „heim ins Reich“ geholt werden – und ganz nebenbei auch die tschechoslowakischen Befestigungsanlagen und Rüstungsbetriebe. Noch am 28. September 1938 sah alles danach aus, als würde das vom Reich gestellte Ultimatum zu einem Einmarsch der Wehrmacht und unmittelbaren Kriegshandlungen führen.

In diese bedrückende Stimmung, angesichts derer in London Luftschutzanlagen errichtet und Gasmasken angepasst werden, setzt Robert Harris die Handlung seines jüngsten Romans Munich. Auf der einen Seite, in No. 10 Downing Street, sucht die britische Regierung fieberhaft nach einem Weg, den Krieg in Europa zu verhindern oder zumindest aufzuschieben. Auf der anderen Seite, im reichsdeutschen Auswärtigen Amt, gibt man berauscht vom eigenen Aufstieg wenig auf die Bemühungen der Alliierten. Im Mittelpunkt stehen der junge Sekretär und Übersetzer Hugh Legat und sein deutsches Gegenüber Paul von Hartmann, Mitglied einer dem Kreisauer Kreis ähnelnden Widerstandsgruppe und Studienfreund Legats aus Oxforder Zeiten.

Diesen Figuren gibt Harris eine winzige Möglichkeit des „Was wäre wenn“ an die Hand, eine winzige Chance, den Lauf der Geschichte und damit einen erneuten Weltkrieg zu verhindern. Hartmann ist im Besitz eines geheimen Memorandums, das Hitlers wahre Pläne, seine von Rassenwahn und Kriegslust geformte Vision vom „Lebensraum im Osten“, verschriftlicht und den Alliierten die Augen öffnen soll. Angesichts dieser Offenbarung, so der Plan, sollen es die Alliierten auf den Krieg ankommen lassen, um dadurch einen Putsch der vermeintlich wenig kriegswilligen Wehrmachtsführung auszulösen.

Doch Harris bleibt bei den Fakten. Es wird schnell klar, dass seine Protagonisten wenig Chancen haben, sich gegen den Lauf der Geschichte zu stemmen oder sie gar aus dem eingeschlagenen Gleis zu werfen. Munich entfaltet seine Spannung daher nur zum Teil aus der auf Harris-typisch hohem Niveau erzählten Agentengeschichte. Viel überzeugender und auf bedrückende Art fesselnd ist die von Harris geschilderte Stimmung in Europa zwischen Resignation, Widerstand und Fanatismus. In London symbolisieren verstaubte Korridore, altmodische Anzüge und Scotch mit Soda ein im Untergang begriffenes Weltreich, dem mit Neville Chamberlain ein alterndes und vermeintlich schwaches Staatsoberhaupt vorsteht. Im Reich hingegen stampfen machtberauschte Faschisten über die Reste der Kultur und verwandeln Parks in vulgäre Brachialmonumente deutscher Großmannssucht.

Munich wirkt wie ein Schwarzweißfilm, in dem nur die Fackeln und Hakenkreuzfahnen Nazideutschlands koloriert wurden. Der Roman erhält seine volle Bedrohlichkeit weniger durch die greifbare Überheblichkeit der Nazigrößen und die latente Gewalttätigkeit der SS-Männer im „Führerbau“, als vielmehr durch die historische Realität. Der Leser weiß um die Vergeblichkeit der Anstrengungen Chamberlains und Hartmanns. Es wird keinen Aufstand der Wehrmacht geben und auch Hitlers Zugeständnisse für einen anhaltenden Frieden in Europa sind angesichts der späteren Eskalation zynische Phrasen. Die Konferenz von München wird heute als letztes Versagen der Appeasement-Politik und Weichenstellung für den Zweiten Weltkrieg begriffen. Für Chamberlain war es der letzte Versuch, sich vor den Millionen Toten des Ersten Weltkrieges zu rechtfertigen und um jeden Preis den Frieden zu erhalten. Als er am 30. September 1938 wieder in England landete, jubelten ihm die Menschen auf den Straßen zu. Nicht einmal ein Jahr später fielen in Polen die ersten Schüsse.

Robert Harris: Munich
London: Hutchinson 2017
342 Seiten, Taschenbuch
£13,99


Büchertour #4: Diener des Rechts und der Vernichtung

Historisch Interessierten ist Fritz Bauer vor allem wegen dessen bedeutsamer Rolle bei der Überführung Adolf Eichmanns nach Israel und den Frankfurter Auschwitz-Prozessen ein Begriff. Da in der bundesdeutschen Vergangenheitsbewältigung in der Regel aber lieber über die erfolgreichen Fälle gesprochen wird, sind die weniger erfolgreichen Anstrengungen Bauers in der Verfolgung von NS-Verbrechen weniger bekannt. Mit einem dieser Fälle, dem sogenannten Schlegelberger-Verfahren, befasst sich Christoph Schneider in seiner Monographie Diener des Rechts und der Vernichtung. Das Verfahren gegen die Teilnehmer der Konferenz von 1941 oder: Die Justiz gegen Fritz Bauer, die der Kulturwissenschaftler am 23. Januar in der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz in Mainz vorstellte.

„Das Schlegelberger-Verfahren ist trotz, oder besser gesagt, wegen seiner eigentümlichen Unsichtbarkeit der Inbegriff jener Momente der NS-Aufarbeitung, denen nichts Vorbildliches zukommt.“ (C. Schneider, S. 14)

Im April 1941 versammelte sich im Berliner „Haus der Flieger“ die vollständige Spitze der damaligen reichsdeutschen Justiz: neben dem Reichspräsidenten, den Oberreichsanwälten und weiteren hohen Vertretern auch die Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte aller Oberlandesbezirke des Deutschen Reichs und der zu diesem Zeitpunkt annektierten Gebiete. Insgesamt weit über 100 Personen der juristischen Elite folgten der Einladung von Franz Schlegelberger – damals Geschäftsführer des Reichsjustizministeriums – nach Berlin.

Zu diesem Zeitpunkt liefen bereits seit 16 Monaten die heute als „Aktion T4“ bekannten Euthanasie-Morde. Die Aktion hatte im gesamten Reichsgebiet die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ zum Ziel – und keinerlei Rechtsgrundlage. Selbst im „Dritten Reich“ waren die Säuberungen unter Kranken und Menschen mit Behinderung strafrechtlich Mord. Die Aktionen wurden daher verschleiert und mit gefälschten Dokumenten nachträglich scheinbar legalisiert. Dennoch kam es im Ablauf immer wieder zu „Störungen“: Gerichte erkundigten sich nach plötzlich verschwundenen Angeklagten, Hinterbliebene zweifelten Todesumstände an, Prozesse um Nachlässe zogen sich hin.

Da schon Schlegelbergers Vorgänger, Reichsjustizminister Franz Gürtner, auf die fehlende Rechtsgrundlage hingewiesen hatte, mit seinem Ersuchen um einen entsprechenden Erlass aber gescheitert war, entschied sich Schlegelberger zu einem außergewöhnlichen Verfahren: Er lud die gesamte juristische Führung nach Berlin und ließ ihnen von zwei hochrangigen Vertretern der zuständigen Zentraldienststelle T4 das gesamte Mordprogramm in aller Deutlichkeit erläutern. Anschließend wurde der Beschluss verkündet, sämtliche als „Störung“ aufzufassende Verfahren künftig ohne weitere Bearbeitung direkt an allen Instanzen vorbei ans Reichsjustizministerium weiterzuleiten. Damit einigten sich die Juristen auf eine Aussetzung des geltenden Rechts, ohne dass dies in irgendeiner Form kodifiziert oder verordnet wurde.

Dies ist aus mehreren Gründen bemerkenswert: Während andere, ähnliche Entscheidungen im kleinen Kreis getroffen wurden (die Wannsee-Konferenz hatte 15 Teilnehmer), versammelten sich in Berlin weit mehr als 100 hochrangige Justizvertreter. Die bisherige Geheimhaltung der Morde wurde aufgegeben; auf der Konferenz von 1941 wurde Klartext gesprochen und die gesamte Mord- und Verschleierungspraxis erläutert. Die Vertreter der Konferenz schufen in einer einzigartigen Plenarsituation eine Art Recht vorbei an den üblichen Wegen. Und nicht zuletzt: Die Konferenzteilnehmer gaben durch ihre allgemeine und widerspruchslose Zustimmung eine im besonderen Maße schutzbedürftige Bevölkerungsgruppe kollektiv der Vernichtung preis und ermöglichten dadurch den reibungslosen Ablauf der „Aktion T4“.

Umso bemerkenswerter, dass Christoph Schneider mit seinen Nachforschungen eine bis heute blinde Stelle in der NS-Aufarbeitung präsentiert. Dabei sind Schneiders Erkenntnisse keineswegs wirklich neu. Schon 1947/48 wurde die Konferenz von 1941 im Hadamar-Prozess in Frankfurt aktenkundig. Zu einem Verfahren gegen die Konferenzteilnehmer kam es unmittelbar nach dem Krieg jedoch nicht. Erst 1960 wurde auf persönliche Initiative von Fritz Bauer hin in Frankfurt ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, dass jedoch umgehend nach Stuttgart abgegeben wurde und dort auf die Halde kam. Nach erheblichen Verschleppungen und Behinderungen konnte erst im Jahr 1967 mit den Voruntersuchungen begonnen werden; zu diesem Zeitpunkt gegen ganze 13 ehemalige Konferenzteilnehmer.

Diese reagierten entsprechend empört darauf, dass man das Recht auf sie zurückwirken ließ. Schneider legt in seiner Arbeit ausführlich die wiederkehrenden Argumentationsmuster der Beteiligten dar, die sich allzu oft dahinter versteckten, nur Teil einer unaufhaltsamen Maschinerie gewesen zu sein, und am Terror von SS und Gestapo ohnehin nichts hätten ändern können. Schweigen sei nicht als Zustimmung zu deuten, eine Diskussion der Vorgehensweise weder gewünscht noch möglich gewesen. Doch auch nach Prozessaufnahme kam es zu Verschleppungen, Prozessbehinderungen und Verzögerungen. Immer mehr der Konferenzteilnehmer starben oder ließen sich prozessunfähig schreiben. Im Jahr 1970, zehn Jahre nach Prozessbeginn und zwei Jahre nach dem Tod Fritz Bauers, wurde das Verfahren mit einem neunzeiligen Beschluss eingestellt, die vier verbliebenen Konferenzteilnehmer außer Vollzug gestellt. In der Öffentlichkeit war das Verfahren zu diesem Zeitpunkt schon in Vergessenheit geraten.

„Die Frage der allfälligen Dienstbarkeit des Rechts für jede Herrschaft kam entweder gar nicht zur Sprache oder wurde als Frage individueller Verfehlungen erörtert. Wenn aber das gesamte Corps der höchsten Juristen einer modernen Nation eine gegen jede Rechtsauffassung verstoßende systematische und anhaltende Mordpraxis hinnimmt und deckt, stehen größere Fragen an als die nach persönlichem Fehlverhalten.“ (C. Schneider, S. 11)

Schneiders Arbeit ist an dieser Stelle noch nicht beendet, sondern erweitert sich um eine dritte Zeitebene. Im Jahr 1978 wird die Anfrage des Richters Helmut Kramer „nach der eventuellen Existenz eines solchen Strafverfahrens“ zuerst ohne Auskunft zurückgewisen. Nachdem sich Kramer die Einsicht in die Dokumente erstritten hatte, erhielt er sparsame 95 Blatt Kopien aus den insgesamt 47 Bände umfassenden Prozessakten für den von ihm angestrebten Beitrag in einer juristischen Fachzeitschrift. Kramers Beitrag erzeugte dann tatsächlich Aufmerksamkeit, vor allem aber schwere Anschuldigungen eines Teilnehmernachkommens, infolge derer Kramer 1984 ein Zivilverfahren einleitete.

Wieder kam es zu erheblichen Verschleppungen und Verzögerungen. Das Verfahren, in dem auch die Konferenz von 1941 ein wichtiger Gegenstand war, zog sich über insgesamt sechs weitere Jahre hin und endete 1990 klanglos in einem Vergleich. Besonders bemerkenswert: Als Kramer die Akten des Schlegelberger-Verfahrens als Beweismittel anführen wollte, waren diese nicht auffindbar. Angeblich seien sie bei der Überführung an das Amtsgericht Bonn (ein Weg von 150 Metern) verschollen. Erst 1989 tauchten die Akten unter dubiosen Umständen bei der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt auf. Einen wirklichen Abschluss, eine wirklich ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema hat es bis heute jedoch nicht gegeben. „Das Thema ist längst nicht durch“, resümierte Schneider in Mainz.

Schneider führt die juristischen Verstrickungen, Verschleppungen und Behinderungen akribisch, sorgfältig und verständlich auf. Man merkt ihm und seiner Arbeit an, dass er weder Jurist noch Historiker, sondern Kulturwissenschaftler ist. Ihn treiben nicht die juristischen Spitzfindigkeiten um, sondern die berechtigte Frage, wie die komplette juristische Führung des „Dritten Reichs“ aus zum überwiegenden Teil noch im Kaiserreich sozialisierten und gut situierten, einflussreichen Männern, kollektiv den institutionalisierten und systematischen Mord einer ganzen Bevölkerungsgruppe hinnehmen konnte. Spürbar ist aber auch Schneiders Frustration darüber, wie das Thema in der Bundesrepublik von Anfang an unterdrückt und verschwiegen wurde. In den 1960er-Jahren, einer Zeit, die stets als positive Zäsur in der NS-Aufarbeitung betrachtet wird, wurde die Auseinandersetzung mit den Verstrickungen der Justiz in die NS-Verbrechen aktiv unterdrückt und tabuisiert. Bis heute, so Schneiders Fazit, versteht es die Justiz der Bundesrepublik sehr erfolgreich, das Vorhandensein der Thematik unter den Teppich zu kehren.

Mit seiner Arbeit hebt Schneider die Bedeutung des Schlegelberger-Verfahrens für das Verständnis der deutschen Vergangenheitsbewältigung erheblich. Dabei geht es ihm nicht nur um die Widerstände der Justiz, sich mit ihrere eigenen Vergangenheit zu befassen, sondern auch um das Bild Fritz Bauers. Während Bauers Erfolge oft als Musterbeispiel für die positive Auseinandersetzung der Bundesrepublik mit der NS-Vergangenheit aufgeführt würden, seien auch Bauers Misserfolge wichtige Quellen für das Verständnis der bundesdeutschen Widerstände gegen die NS-Aufarbeitung. Zugleich verdeutlicht Schneider die Bedeutung der eigentlichen Konferenz von 1941, die mit Blick auf die Euthanasie-Morde als Beginn des Holocausts die folgenschwere Anpassung der Justiz an den Vernichtungsbetrieb markierte.

Christoph Schneider: Diener des Rechts und der Vernichtung. Das Verfahren gegen die Teilnehmer der Konferenz von 1941 oder: Die Justiz gegen Fritz Bauer
Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Band 30
Frankfurt am Main: Campus Verlag 2017
242 Seiten, gebunden
29,95€

Vortrag und Lesung mit Christoph Schneider fanden am 23. Januar 2018 als Kooperationsveranstaltung der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz mit dem Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. im Rahmen der Veranstaltungsreihe zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2018 statt.


Weltraumschrott: Horst Müllers „Signale vom Mond“

Kürztlich kam mir der kleine „Zukunftsroman“ Signale vom Mond von Horst Müller aus dem Jahr 1960 in die Hände. Angesichts meines Faibles für frühe Science Fiction, insbesonder aus dem Ostblock, versprach das etwas abgegriffene Büchlein kurzweilige Unterhaltung an den Weihnachtstagen. Nun, zumindest die Illustrationen von Heinz Völkel sind einigermaßen launig.

Wir befinden uns in der nahen Zukunft, etwa 20 Jahre nach Ende des Krieges. Die Welt ist geteilt, wenngleich die „Überreste“ des Kapitalismus im Sterben liegen und mit dem Glanz der kommunistischen Staatengemeinschaft nicht mithalten können. Das Rennen um das Weltall hat Amerika verloren. Um die Erde kreist die hochmoderne Raumstation „Kosmos 1“, von deren Startrampe in wenigen Tagen eine bemannte wissenschaftliche Expedition zum Mond aufbrechen soll. Dennoch schießen die Amerikaner quer und können eine eigene Rakete „Phönix“ noch vor der Ost-Mission auf den Mond absetzen. Zwischendurch kam es zu einem Zwischenfall: Der wagemutige und renommierte Journalist Niels Jensen gerät bei einem Außeneinsatz um Kosmos 1 in einen Asteoridenschauer und wird abgetrieben. Merkwürdige Wesen retten ihn und setzen ihn vor dem gelandeten amerikanischen Raumschiff ab. Es kommt zu Verwicklungen und Intrigen, letztlich siegt die kommunistische Gesellschaft und bricht zwei Jahre später zu einer glanzvollen Mission zum Jupitermond Ganymed auf, der als Heimstatt der Außerirdischen identifiziert ist.

Signale vom Mond ist eine Weltraum-Abenteuergeschichte, die – würde man den Roman von seiner politischen Agenda befreien und sprachlich über das Niveau eines Schulaufsatzes heben – vielleicht unterhalten könnte. So aber ist die Geschichte um den heroischen Reporter ziemlich belanglos, da sie letzlich nur als Vehikel dient, die technologische, moralische und ideelle Überlegenheit des Ostens über den Westen zu demonstrieren.

Müllers Agenda ist dabei nicht einmal besonders elaboriert: Der Osten steht für die kollektive Menschheit (eine Weiterentwicklung von Ulbrichts „sozialistischer Menschengemeinschaft“), Gemeinschaft, Optimierung und eine helle Zukunft; während im Westen Kapital, Machtsucht, Eigennutz und Korruption herrschen. „Noch immer mächtige Finanzgruppen“ (S. 72) halten die Fäden einer scheinbar völlig machtlosen Regierung in der Hand, einzelne Charaktere sind nur auf den eigenen Vorteil bedacht, korrupt und suchtgesteuert. Im Prinzip ist jeder käuflich, finstere Ziele aller Art bis zur Erklärung offener Kampfhandlungen lassen sich ganz einfach mit der nötigen Menge Dollars erreichen. Wenig überraschend, in seiner Plumpheit aber doch bemerkenswert, ist die aggressive Ablehnung von Religiösität, aus der heraus Müller ausgerechnet tibetanische Mönche zu terroristischen Handlangern der Amerikaner macht.

Die Darstellung der Konfliktparteien ist ziemlich eindeutig.

Der Ostblock hingegen ist technologisch einwandfrei, überlegen und moralisch integer. Die kommunistische Weltgemeinschaft arbeitet zum Wohle aller uneigennützig zusammen und meistert den technologischen Fortschritt. Mit der Vorstellung von Aerotaxis und Bildtelefonen reiht sich Müller in damals gängige SciFi-Vorstellungen ein, ebenso wie mit dem scheinbar grenzenlosen Vertrauen in die Atomkraft, deren unendliche, saubere und sichere Energie alle Versorgungsprobleme gelöst hat. Aus heutiger Sicht ebenso interessant ist das absolute Vertrauen in die fast vollständige Automatisierung von Steuerungsprozessen und Berechnungen. Kurios: Nachrichten werden trotz aller Automation und Funk-Bild-Technik weiterhin per Rohrpost zugestellt.

Obwohl erst 1960 erschienen setzt Signale vom Mond mit seiner Schulbuch-Didaktik und dem sehr monochromen Weltbild die Ideale und den Geist der frühen DDR-Aufbauliteratur der 50er fort. Diese idealisierte eine sich schnell entwickelnde sozialistische Gesellschaft und machte sich die „ständige Entfaltung des realkommunistischen Wesens der neuen Gesellschaft“ (offizielle DDR-Darstellung) zum Thema. Man wollte mit der Literatur nicht nur einen Beitrag zum Aufbau der „sozialistischen Nation“ leisten, sondern gleichzeitig eine „sozialistische Nationalliteratur“ erschaffen, die fürderhin als „sozialistische Klassik“ Modellcharakter für die Literatur eines wiedervereinigten Gesamtdeutschlands unter kommunistischer Führung dienen sollte. Mit dem Alltag der Menschen – oder anspruchsvoller Literatur – hatte das jedoch überwiegend nichts zu tun.

Signale vom Mond versetzt den Aufbauroman aus der sozialistischen Produktion in eine nahe Zukunft, in der alle Menschen der Erde – zumindest des geläuterten und „besseren“, weil kommunistischen, Teils – gemeinsam Neues zu Gunsten der Menschheit schaffen. Auch die Erforschung des Alls ist ein kollektives Projekt. Gleichzeitig krankt der Roman am gleichen Problem wie die frühen Produktionserzählungen: Den Aufbau unternehmen Mitglieder der Intelligenz, das eigentlich herrschende Proletariat findet im Roman keine Erwähnung und dient allenfalls als Handlanger und Nebenfigur.

Ähnlich ergeht es übrigens den Frauen, denen in der kommunistischen Weltgemeinschaft zwar durchaus Erfolg in der Wissenschaft und Forschung zugetraut wird, ohne sie jedoch aus dem Fräuleinschema herauszuheben oder ihnen gar Führungspositionen einzugestehen. Einfluss auf die Handlung haben die beiden (!) Frauenfiguren keinen, sie dienen lediglich der „Liebesgeschichte“, deren Skript „Reporter macht sich über Wissenschaftlerin lustig, diese erkennt nach seinem Verschwinden ihren (!) Fehler und verliebt sich in Abwesenheit“ an Unerträglichkeit kaum zu überbieten ist.

Letztlich entspricht der Roman genau der Kritik von Eduard Claudius, der seinerzeit nach einer von ihm eingeläuteten Welle von Aufbauromanen den Anspruch der politischen Führung und Verleger kritisierte: Manche glaubten, so Claudius, „der Schriftsteller sei einem Computer ähnlich, in den man die Programmierungskarte hineinstecken könne, und blitzschnell, ehe man sich’s versieht, komme der fertige, nach Wunsch geschneiderte Roman heraus: ein Teil positiver Held in strahlend heller Sonne, zur notwendigen Kontrastierung ein wenig gewölkt, ein Teilchen wohldosierter Liebe, wie sie halt üblich ist, natürlich ein Gegenspieler, dieser aber schwach, schlecht und zuletzt unterliegend.“[1]

Horst Müller: Signale vom Mond
Bautzen: Domowina Verlag 1960.
202 Seiten, gebunden
vergriffen

[1]  (Zitiert nach: Emerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Berlin: Aufbau Taschenbuch 2005, S.139f.)


„Alles begann mit einer Vermessenheit“ – Zur 100. Ausgabe der „allmende“

Man ist sich nicht mehr so ganz sicher, wer nun eigentlich die ausschlaggebende Idee hatte. Sicher ist, dass es wohl im Jahr 1980 war, im Hause Martin Walsers, vermutlich bei Zwetschgenkuchen und nach langen Diskussionen. Entstanden ist seinerzeit die Allmende. Eine alemannische Zeitschrift, deren 100. Ausgabe jetzt erschienen ist.

An jenem Gründungstreffen beteiligt waren damals neben Martin Walser auch Hermann Bausinger, Adolf Muschg, André Weckmann und Manfred Bosch – die damit zu den Herausgebern der Allmende wurden, unterstützt von Matthias Sprenger, der lange Jahre die Redaktion der Zeitschrift übernahm. Von Anfang an hatte die Zeitschrift das hehre Ziel, eine „grenzüberschreitende Kulturzeitschrift mit einer politisch-kritischen Ausrichtung“ zu sein, erklärt der heutige Herausgeber Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Mit diesem Anspruch war die Allmende erkennbar ein Kind ihrer Zeit, fiel die Erstausgabe im Jahr 1981 doch in eine Zeit wichtiger politischer und gesellschaftlicher Um- und Aufbrüche, insbesonder im Südwesten der Bundesrepublik.

In Karlsruhe gründeten sich die Grünen, Bürgerproteste am Oberrhein verhinderten den Bau von Atomkraftwerken in Wyhl und Brokdorf und zeitgleich konstituierte sich in Baden-Württemberg die „Initiative Schreibender Frauen“. Es erschienen die politisch aufgeladenen Gedichte abendland von Kurt Matis oder Christoph Meckels Suchbild. Über meinen Vater. Gleichzeitig erlebte auch die Mundartdichtung eine Renaissance; „das Alemannische avancierte zu einer grenzüberschreitenden Sprache gegen die Regierenden“, so Schmidt-Bergmann.

Hermann Bausinger erinnert sich in seinem Beitrag an die Gründungssitzung und die damals schwierige Titelfindung im Hause Walser. Der Selbstbezug auf das Alemannische erwies sich dabei als geschickter Schachzug, konnten über den nicht politisch definierten Raum doch grenzübergreifend Regionen in Deutschland, Frankreich, Liechtenstein, dem Voralberg und der Schweiz angesprochen werden. Sprachlich hielt man sich ebenfalls größere Räume offen, sei doch selbst das Schwäbische ein Teil des Alemannischen – „was die Schwaben allerdings nicht wissen und die Alemannen nicht wissen wollen“.

Trotz dem mit der Übernahme der Zeitschrift durch Hansgeorg Schmidt-Bergmann vor 15 Jahren auf Gesamtdeutschland erweiterterm Blickfeld hat die heutige allmende ihren Heimatbezug nie ganz verloren und stellt noch immer südwestdeutsche Autoren und deren Veröffentlichungen an zentrale Stelle. In dieser regionalen Verhaftung liegt die „Vermessenheit“ begründet, die Manfred Bosch zufolge schon am Anfang der Allmende stand. Der Vermessenheit nämlich, dass sich für ein derart regionales Projekt, eine Literaturzeitschrift für den süddeutschen, alemannischen Raum, genug Interessenten, Leser und – natürlich – Abonnenten finden würden.

Dabei versuchte die Allemende mit Erfolg von Anfang an eine positive Reaktivierung und Umdeutung des Heimatbegriffs, nachdem dieser von den Nationalsozialisten barbarisch diskreditiert und von den eskapistischen Heimatfilmen der BRD-Nachkriegszeit zum Kitsch degradiert wurde. Gerade die Anti-AKW- und Friedensbewegung der 80er-Jahre demonstrierten, wie sich die Menschen grenzübergreifend für den Erhalt ihrer Heimat einsetzten, starre politische Grenzziehungen infrage stellten und übergreifende Probleme gemeinsam diskutierten. Im gleichen Sinne setzte und setzt sich die Allmende ein für eine „kritische Heimatkunde, literarisch und essayistisch, historisch wie gegenwartsbezogen“ (Manfred Bosch)

Illustre Runde – Mehr als 900 Autoren beteiligten sich bislang an 100 Ausgaben.

Das politische Spannungsfeld zwischen RAF-Attentaten, dem Ende der sozialliberalen Koalition und dem Erstarken der Frauenbewegung blieb im Verlauf der 80er-Jahre im Aufmerksamkeitsfeld der Allmende, die sich so zusehends zu einer wichtigen Chronistin der gesellschaftspolitischen Bewegungen und Diskurse im Südwesten des deutschen Sprachraums entwickelte – und es bis heute geblieben ist. Um diese zeitgeschichtliche Relevanz der Öffentlichkeit besser zugänglich zu machen, soll das Gesamtarchiv der Zeitschrift unter allmende-online.de mittelfristig vollständig digital erfasst und veröffentlicht werden.

Die 100. Ausgabe ist also ein triftiger Grund zu feiern. Nicht zuletzt, weil die allmende deutlich beweist, dass es auch in scheinbar durchdigitalisierten und durchglobalisierten Zeiten lohnt, eine (analoge) Literaturzeitschrift herauszugeben. Martin Walser und Adolf Muschg steuern zur Jubiläumsausgabe Auszüge aus ihren gegenwärtigen Romanprojekten Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte und Monsignore bei und läuten damit den auch in der 100. Ausgabe wieder namhaften Reigen der Autorinnen und Autoren ein. Enthalten sind unter anderem Arno Geigers Rede zur Verleihung des Alemannischen Literaturpreises 2017, die Reflektionen zur Heimat als Gefühl von Lena Gorelik sowie Essays von Wilhelm Genazino, Karl-Heinz Ott, Arnold Stadler, Sybille Lewitscharoff und Feridun Zaimoglu.


Büchertour #3 – Abbas Khider im Mainzer Ratssaal

So ganz will der Rahmen nicht zu ihm passen, zu Abbas Khider, dem 33. Mainzer Stadtschreiber, der im Rahmen der 18. Mainzer Büchermesse in der Mitte des Mainzer Ratssaales an einem kleinen Tischchen Platz genommen hat. Um ihn herum gedimmtes Licht, auf den Plätzen der Ratsdamen- und -herren gespannte Zuschauer. Der Saal ist gut gefüllt. Die Wappen der Partnerstädte, das aufwändige Blumengesteck am offiziellen Rednerpult, das Portrait von Bundespräsident Steinmeier – der Raum wirkt feierlich, es liegt etwas „offizielles“ in der Luft.

Abbas Khider scheint das nichts auszumachen. Weder der hochoffizielle Rahmen, noch das Fehlen der Kulturdezernentin, die noch irgendwo im Stau feststeckt. Es geht auch ohne ihre Ansprache. Kurz vor dem Ende seiner „Amtszeit“ in Mainz scheint sich Khider wohlzufühlen, sich mit den Mainzern und ihren Gepflogenheiten auszukennen. Also geht es auch ohne Eröffnung, vermutlich sogar noch besser und authentischer.

Denn mit seinen Erzählungen lässt Khider den Rahmen schnell in den Hintergrund treten. Mit einer förmlich greifbaren Energie erzählt er von den kleinen Unterschieden zwischen den Städten, zwischen München, Mainz und Berlin, die ihm als Einwanderer aus dem Irak noch deutlicher vor Augen treten als den Eingeborenen. Dabei sieht er die kleinen Dinge nicht nur, sondern erzählt von ihnen, beschreibt die Kuriositäten des Alltags und fängt sich damit wohl immer wieder den Vorwurf ein, ein Märchenerzähler zu sein. Doch nicht er erfinde die Märchen, sondern das Leben selbst.

Als anschauliches Beispiel liest er aus seinem jüngsten Roman Ohrfeige, dem Monolog eines Flüchtlings, der seiner gefesselten Sachbearbeiterin in der Ausländerbehörde seinen ganzen Frust und Werdegang berichtet. Auch das sei, vielleicht von der Geiselnahme abgesehen, alles so passiert, aus dem Leben gegriffen.

Khider liest dabei wie er spricht, erzählt und schreibt: mit Leidenschaft, Begeisterung und Nachdruck, gestenreich und mit vollem Körpereinsatz. Khider liest nicht nur einen Text vor, er inszeniert ihn, deklamiert und gestikuliert – selbst wenn er ganz in seinen Text vertieft ist, scheinen seine Hände nicht ruhen zu wollen.

Sein Text, Khiders vielbeachteter Roman Ohrfeige, erzählt vom Alltag eines Asylbewerbers im Jahr 2001. Es gibt kein „Wir schaffen das“ und keine „Flüchtlingskrise“, dafür aber den 11. September und ein an Hysterie grenzendes Misstrauen gegen alles auch nur annähernd Arabische. Hinter den Kulissen hat sich bei näherer Betrachtung nicht allzu viel geändert. Hysterie und Vorurteile vergiften auch heute die Beziehung zwischen Neuankömmlingen und Alteingesessenen und noch immer ist der Umgang mit den Behörden ein Spießrutenlauf zwischen Unwille, Überforderung und Bürokratie.

Abbas Khider – „Ohrfeige“ © Hanser

Khiders Klammer, sowohl im Text als auch an diesem Nachmittag, ist das Geschichtenerzählen. Dass Menschen sich Geschichten ausdenken, um Zutritt, Schutz und Asyl zu bekommen, sei kein neues Phänomen seit 2015. Schon immer hätten sich Menschen auf der Flucht Geschichten ausgedacht, auch um ihre eigentliche Herkunft zu verschleiern. Egal ob europäische Einwanderer in den USA, jüdische Flüchtlinge in der Schweiz oder afghanische Asylbewerber im heutigen Deutschland: Das jeweilige System zwinge die Menschen dazu, Geschichten zu erfinden. Aus dieser Diskrepanz zieht Khider seinen erzählerischen Auftrag; um das „Warum“ hinter der Geschichte zu ergründen und um eine Brücke zu schlagen zwischen den „Vetretern des Systems“ und der aus der Not heraus erfundenen Geschichte.

Dass das Brückenbauen indes nicht immer einfach ist, demonstriert dieser Nachmittag mit seiner ganz eigenen Ironie: Parallel zur Veranstaltung wird der neue Teil der Schiersteiner Brücke eingerichtet. Die dafür nötige zweitägige Vollsperrung sorgt für eben jenes Verkehrschaos, dem aller Vermutung nach auch die Frau Kulturdezernentin und ihre Ansprache zum Opfer gefallen sind.


Büchertour #2 – Die Mainzer Büchermesse

Nein, mit internationalen Messegrößen wie Leipzig oder Frankfurt kann man sich nicht messen. Aber wollte man denn? Vermutlich eher nicht, legt man doch auch in anderen Dingen in Mainz eher Wert darauf, eben nicht Frankfurt zu sein. Wie oft ist es gerade die Mainzer Gemütlichkeit, dieser etwas kleinere Rahmen, die Zurückhaltung der Präsentation, die auch die jährliche Mainzer Büchermesse so attraktiv macht. Am vergangenen Wochenende fand im Mainzer Rathaus die 18. Auflage der Bücherschau statt.

Große Namen hat Mainz zur Genüge. Neben dem obligatorischen Herrn Gensfleisch schmückt man sich gerne mit der renommierten Universität, der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, ZDF, SWR und Gutenberg-Museum. Zugleich aber weiß man nicht nur wegen der kecken Mainzelmännchen auf dem Lerchenberg, dass man mit dem zweiten Blick manchmal besser sieht. Und so ist die Mainzer Büchermesse vor allem eine Schau für die Kreativ- und Medienszene der Stadt abseits der großen Institutionen. Auch wenn die – selbstverständlich – mit vertreten sind.

Im Mittelpunkt stehen aber regionale Klein- und Traditionsverlage, Initiativen, mit Büchern verbundenes Kunsthandwerk sowie Lese- und Autorenförderprogramme. Kleine Perlen mit durchaus großer Bandbreite: Da stehen die „analytisch-kritischen Heimatbeschreibungen der Pfalz“ aus dem Bachstelz-Verlag neben den Reise- und Wanderführern aus dem Hause PMV oder den regionalen Krimis und Kochbüchern aus dem Leinpfad Verlag. Der Mini-Verlag C. W. Meisterburg befasst sich mit Themen, die Kinder zwar erleben, die aber auf dem klassischen Kinderbuchmarkt eher ausgelassen werden (beispielsweise der Schlaganfall von Opa Willi). Zeitgeschichtlich hochaktuelles von Lafontaine bis Noam Chomsky findet sich im Mainzer nomen Verlag, während sowohl der Verlag S. Fechner-Sabo als auch der Jüli-Verlag und Buchkünstler Matthias Harnisch die Freunde feiner Kunst und Poesie begeistern.

Zu den kleinen Besonderheiten zählen sicher der Esperanto-Buchversand und der kleine Kinzelbach-Verlag. Ersterer versorgt Leser auf der ganzen Welt mit einem ausschließlich in Esperanto gehaltenen Programm aus Lehrbüchern, Klassiker-Übersetzungen und original in Esperanto verfassten Titeln aus Belletristik, Poesie und Sachbuch. Donata Kinzelbach hingegen gibt in ihrem kleinen Verlag seit fast 30 Jahren ausschließlich Literatur aus dem Maghreb in deutscher Übersetzung heraus und engagiert sich auf diese Weise mit Hingabe für die friedliche Verständigung zwischen den Kulturen. Über 100 belletristische Titel und Sachbücher umfasst das Programm mitllerweile.

Meine persönliche Entdeckung ist jedoch die Kombination aus Ventil und gONZoverlag. Zuerst etwas irritiert vom doch recht breiten Spektrum zwischen Punkliteratur, veganen Kochbüchern und feinen Lyrikheftchen, wurde ich rasch aufgeklärt, dass es sich um zwei unabhänige Projekte handelt, die sich lediglich einen Stand teilten. Beide unabhängig, alternativ und abseits des Mainstream. Der 1999 entstandene Ventil Verlag widmet sich dabei eher einer bunten Mischung aus Subkultur, Gesellschaftstheorie, Musik- und Filmgeschichte, während der gONZoverlag von Miriam Spies äußerst lesenswerte und alternative Belletristik und Poesie präsentiert. Besonders gespannt bin ich auf Lee Hollis‘ Many Injured, More Dead, das bei Ventil erscheint und direkt mal auf die Leseliste gewandert ist.

Es lohnt sich, abseits der bekannten Wege zu gehen. Die Pfade mögen etwas weniger bequem anmuten, die Blumen am Wegesrand sind dafür umso vielfältiger und ausgefallener.


Quo vadis pagina secunda?

Reich ist, wer Zeit zur Hand hat. Hat das mal ein schlauer Mensch gesagt? Falls nicht: Ist es denn nicht so? Gibt es denn heute nicht unzählige Dinge, die um unsere knapp bemessene Aufmerksamkeit und Zeit buhlen? Arbeit, Alltag, Freizeit – kaum etwas scheint heute so abwegig wie Müßiggang und Leerlauf.

Euch aufmerksamen Lesern der Seite Zwei wird nicht entgangen sein, dass mein vor einiger Zeit angekündigtes Ziel, die Beitragsfrequenz wenn nicht zu erhöhen, so doch zumindest konstant zu halten, in den vergangenen Wochen etwas gelitten hat. Doch keine Panik: An dieser Stelle folgt kein vorzeitiger Abgesang.

Vielmehr soll, letztlich auch zur eigenen Motivation, der kommende Weg etwas näher beschrieben, sozusagen ausgekundschaftet werden. Wohin also soll die Reise gehen?

Die Seite Zwei ist mittlerweile kein neues Blog mehr. Es hat sich ein ordentliches Beitragsarchiv angesammelt und es finden sich interessierte, manchmal sogar regelmäßige Leser ein. Das ist schön. Reicht das? Vielleicht. Gleichzeitig erscheint es mir geboten, die Sache etwas ernsthafter, organisierter anzugehen. Hier kommt ihr ins Spiel – Ihr, deren Blogs ich manchmal so neidvoll beäuge, die Regelmäßigkeit eurer Beiträge, die vielen Interaktionen und die aktive, lebendige Gemeinschaft, die ihr mit euren Leserinnen und Lesern geschaffen habt.

Zuvorderst soll es in Zukunft einen Plan geben, was wann geschrieben wird, um diesen nagenden Gedanken abzuschaffen, der mich immer wieder mit rostiger Stimme daran erinnert, dass ich mir doch noch eine Idee für den Blog ausdenken, noch ein Buch für eine Rezension lesen müsse. Pscht.

Jetzt kann man das gleich mal übertreiben und sich bei Scompler eine ganze Kampagne zusammenfrickeln. Ich fürchte aber, dass das den Anlass mit einer Wagenladung Aufwand erschlagen und in einem Aufwasch begraben würde. Am anderen Ende des Spektrums stehen dann Zettelwirtschaft und Excel-Tabellen, die bei mir sofort Assoziationen von Dachbodenmuff und verrosteten Scharnieren wecken. Gibt es da nicht etwas dazwischen? Habt ihr Erfahrungen mit Redaktionsplänen und was nutzt ihr dafür? Es gibt im Weltweitnetz doch sonst für alles eine Nischenlösung, warum also nicht auch für kleine Ein-Schreiberling-Buchblogs? Immerhin will ich hier nicht die Content-Strategie für ein neues Start-up organisieren …

Womit wir bei den sozialen Medien angekommen wären. Bislang streue ich meine Beiträge lediglich über die automatische Abonnenten-E-Mail und Twitter. Ahja, und an meinen alten Tumblr, der aber mittlerweile praktisch stillgelegt ist. (Nutzt das noch jemand? Kennt der- oder diejenige zufällig mein Passwort?) Das Ergebnis ist mau bis übersichtlich, mehr als den einen oder anderen Besucher erreiche ich darüber nicht. Da sind sogar die gelegentlich bei reddit gestreuten Links wirkungsvoller. Hier möchte ich auf jeden Fall ansetzen.

Mein privater Twitteraccount ist eine eher unkoordinierte Sammlung aus misanthropischem Frustgemurmel und Kulturmanagement-Themen, zwischen denen der Bücheranteil zuweilen unterzugehen droht. Hier will ich die Zielgruppen etwas schärfer trennen und der Seite Zwei einen eigenen Kanal widmen, auf dem es dann vorrangig nur noch um Literatur, das Lesen und Kulturthemen gehen soll. Digitale Kulturpolitik und Zynismus dann wie gehabt an gewohnter Stelle. Seit ein paar Tagen ist bereits der neue Kanal unter @seitezwei erreichbar. Apropos Erreichbarkeit: Die Seite Zwei ist seit ein paar Tagen auch direkt über die etwas freundlichere Adresse paginasecunda.net zu finden.

Nun sag, wie hast du’s mit Facebook?

Damit zur Gretchenfrage, zum dunkelblauen Elefanten im Raum. Kommt man drumherum? Sicher. Verpasst man damit ein ohnehin vorhandenes Netzwerk? Ebenso wahrscheinlich. An diesem Punkt bin ich gespalten und ratlos. Soll eine ‚Fanpage‘ her? Muss die Seite Zwei zu Facebook? Was sind eure Erfahrungen mit dem Giganten? Lohnt es sich für ein kleines Blog? Erreicht man darüber tatsächlich so viel mehr Leser? Da ich selbst das Netzwerk nicht nutze – und auch nicht vorhabe, es in Zukunft privat zu nutzen – kann ich auch hier auf kein bestehendes Netzwerk aufbauen und müsste von Grund auf neu beginnen. Während das sicherlich machbar ist, bleibt die Frage: Lohnt sich das? Hier würden mich eure Erfahrungen interessieren – sowohl als Leser- wie als Bloggerinnen.

Zum Abschluss noch ein Versprechen: Die Seite Zwei wird, auch wenn mal wieder Durststrecken und Löcher im Redaktionsplan auftreten sollten, so bald nicht verschwinden. Ich habe da noch Ideen für neue Formate, die ich gerne ausprobieren würde. Unter anderem möchte ich die Büchertouren ausbauen und öfters einmal von draußen berichten. Vielleicht kann man ja auch den #Montagskaffee wiederbeleben. Gibt es denn etwas, was ihr vermisst?


Gelb, gelb, gelb sind alle meine Bücher – Reclams Universalbibliothek wird 150

Wer kennt sie nicht, die kleinen, gelben Bändchen der Reclam Universalbibliothek? Handlich, schmucklos und bodenständig bieten sie heute vor allem Schülern und Studenten einen kostengünstigen Zugang zur aktuellen Pflichtlektüre aus dem neuen Schuljahr oder zum Goethe-Seminar. Und damit teilen alle eine Gemeinsamkeit mit der heute ältesten Taschenbuchreihe Deutschlands: angefangen hat es mit Goethes Faust.

Die Geschäftsidee, mit der die Verleger Anton Philipp Reclam und sein Sohn Hans Heinrich im Jahr 1867 die Verlagswelt revolutionieren sollten, war so simpel wie Erfolg versprechend: bekannte Texte der Weltliteratur durch einen kleinen Preis einem breiten Publikum zugänglich machen. Möglich wurde dies, weil im Jahr 1865 erneut das Urheberrecht im Deutschen Bund geändert wurde. Demnach erlosch zum 9. November 1967 das Schutzrecht auf Texte aller Autoren, die vor dem 9. November 1837 verstorben waren. Eine Goldgrube für die damalige Verlagslandschaft.

In Leipzig war man dem Wettbewerb jedoch buchstäblich voraus: Im Hause Reclam hatte man die Gelegenheit erkannt und geklotzt statt gekleckert. Ganze 50 Bände hatte man im Verlagshaus Reclam bereits verkaufsfertig vorrätig, als zum Stichtag 1867 die Schutzrechte ausliefen. Dabei zeigte sich Reclam auf der Höhe der Zeit. Gedruckt wurde mit modernsten Drucktechniken, Vertrieb und Marketing wurden professionell mit besonderen Konditionen und aktiver Werbung aufgezogen.

Ein Erfolg: Die mit 5.000 Bänden für damalige Verhältnisse recht hohe Erstauflage der Nummer 1 – Goethes Faust – war innerhalb von Wochen vergriffen.

Hinter dem Konzept stand jedoch nicht nur das marktwirtschaftliche Interesse. Vielmehr war die Idee hinter der Taschenbuchreihe eine egalitär-bildungspolitische Vision: Mit den kleinen, sehr erschwinglichen Büchlein sollten Leser in Gesellschaftsschichten erschlossen werden, denen der Zugang zu Literatur und Büchern bislang vor allem aus finanziellen Gründen verwehrt war. Reclams Universal- sollte stets auch eine Bildungsbibliothek sein und das kulturelle Gedächtnis spiegeln. Multa et Multum – „Vieles für Viele“ ist bis heute das Motto.

Faksimile der Universal-Bibliothek 1, Leipzig 1867, © Reclam

Schon 1908 umfasste der Katalog stolze 5.000 Titel. Bis heute wurden über 20.000 Werke verlegt, 3.500 Bücher und 500 E-Books sind derzeit im Verlagsprogramm. Eine stolze Menge, die man – heute in Stuttgart – natürlich auch um eine Sonderedition erweitert. Besonders angetan bin ich von der Jubiläumsausgabe des ersten Bandes, der als Faksimile der Urfassung von 1867 erhältlich ist. Sicher ein schönes Stück für meine Sammlung an Faust-Ausgaben.

Mein Erstkontakt war übrigens auch – natürlich – die Schule. Ich weiß nicht mehr, welcher Titel es war, aber ich erinnere mich gut daran, als fast Einziger in der Klasse eine Reclam-Ausgabe vor mir liegen gehabt zu haben, während das Gros der Empfehlung gefolgt war, ein Hamburger Leseheft zu kaufen. Vor mir lag also dieses etwas abgegriffene Büchlein aus der recht umfangreichen Sammlung meiner Eltern. Obwohl noch im eher drögen Gilbbraun (das knallige Gelb kam erst 1970) überzeugte mich die schnörkellose Aufmachung sofort. Mein Studium hat dann dazu beigetragen, dass ich heute eine ähnlich umfangreiche Sammlung der kleinen gelben (aber auch orangenen, grünen und roten) Büchlein habe; viele davon voller Anmerkungen, Eselsohren, Kritzeleien, und dadurch ganz eigenem Charme.

Und ihr? Könnt ihr euch an euer erstes Reclam-Büchlein erinnern? Dass ihr eines habt, steht außer Frage. Es gibt wohl niemanden in diesem Land, der im Laufe seines Lebens nicht mindestens ein Büchlein der Universalbibliothek in den Händen hatte. Die meisten sicher sogar freiwillig.


Zum letzten Mal per Anhalter durch die Galaxis: Douglas Adams‘ „Lachs im Zweifel“

„Meine Lieblingsgeschichte ist, daß Branwell Brontë, der Bruder von Emily und Charlotte, an einem Kaminsims lehnend stehend gestorben ist, um zu beweisen, daß so was machbar ist.

Das stimmt natürlich nicht ganz. Meine absolute Lieblingsgeschichte handelt davon, daß junge Faultiere so ungeschickt sind, daß sie statt nach Ästen oft nach ihren eigenen Armen und Beinen greifen und dann vom Baum fallen. Dies hat jedoch nichts mit dem zu tun, was mich gerade beschäftigt, weil es mit Faultieren zu tun hat, wohingegen die Geschichte über Branwell Brontë sich um Schriftsteller dreht und darum, daß man sich wie eine Leiche auf Urlaub fühlt und irgend etwas tut, nur um zu beweisen, daß es machbar ist.“ (S. 144)

Meine persönliche Lieblingsgeschichte ist die, in der ein gewisser Douglas Noël Adams erzählt, wie er einmal versuchte, das Tauchen mit einem Mini-U-Boot und Mantarochen zu vergleichen. Dabei beschreibt er ganz nebenbei dieses ganz besondere Lächeln der Australier, das man Down Under ausschließlich für Engländer reserviert hat, weil nur die es fertig bringen,  ihre Verbrecher als Höchststrafe aus dem nebelig-grauen England nach Australien zu verbannen – wo sie vielleicht auch ein bisschen surfen können.

Lachs im Zweifel erschien bereits im Jahr 2003 und vereint diese Geschichten unter einem Buchdeckel. Peter Guzzardi, langjähriger Freund von Douglas Adams, hat nach dessen tragischem und viel zu frühen Tod Adams‘ literarischen Nachlass gesichtet und diesen Sammelband herausgegeben, wohl auch als posthume Ehrung des großartigen Erfinders von Per Anhalter durch die Galaxis.

Doch Douglas Adams war mehr als das. Lachs im Zweifel schafft es, uns auch den technikbegeisterten Mac-Nutzer Adams vorzustellen, der den kleinen „Bammeldingern“, jenen unzähligen Adaptern und Kabeln, den Kampf ansagt; den Atheisten Adams, der von seiner trotzdem bestehenden Faszination für Religion spricht, und den Tierschützer Adams, der von Wanderungen im Nashornkostüm zum Kilimandscharo oder eben Tauchfahrten im Great-Barrier-Reef berichtet.

„In Wirklichkeit weiß ich nicht, woher meine Ideen kommen, oder auch nur, wo ich nach ihnen suchen sollte. Kein Schriftsteller weiß das. Das stimmt allerdings nicht ganz. Wer ein Buch über die Paarungsgewohnheiten von Schweinen schriebe, würde schon ein paar ganz gute Ideen aufschnappen, wenn er in einem Plastikregenmantel auf einem Bauernhof rumhängt, aber wenn man Romane schreiben will, dann besteht die einzige Lösung darin, Unmengen Kaffee in sich reinzuschütten und sich einen Schreibtisch zu kaufen, der nicht gleich zusammenbricht, wenn man verzweifelt den Kopf dagegen donnert.“ (S. 75)

Zusammengefasst sind Interviews, Redeauszüge und Essays des Engländers sowie die Anhalter-Kurzgeschichte Jung-Zaphod geht auf Nummer Sicher. Doch von literarisch größerem Interesse sind wohl die ersten elf Kapitel seines letzten, leider unvollendet gebliebenen Romans rund um den skurril-schrägen Privatdetektiv Dirk Gently. Der Roman blieb Fragment, nachdem Adams den Elan verlor und viele der Ideen doch lieber in einem neuen Anhalter-Roman verwenden wollte.

Dazu ist es jedoch nie gekommen. Douglas Adams verstarb am 11. Mai 2001 in Santa Barbara, Kalifornien.

Douglas Adams: Lachs im Zweifel. Zum letzten Mal per Anhalter durch die Galaxis.
Hg. von Peter Guzzardi. Aus dem Englischen von Benjamin Schwarz.
Hamburg: Heyne 2003
320 Seiten, Hardcover
8,95 €