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Verlorene Jugend: Christina Henrys „Lost Boy”

„Once I was young, and young forever and always, until I wasn’t. Once I loved a boy called Peter Pan.

Peter will tell you, that this story isn’t the truth, but Peter lies. I loved him, we all loved him, but he lies, for Peter wants always to be that shining sun that we all revolve around. He’ll do anything to be that sun.

Peter will say I’m a villain, that I wronged him, that I never was his friend.

But I told you already. Peter Lies.” (S. 7)

Und wie er lügt. Märchenhaft klingt es zu Beginn: Eine Insel voller Abenteuer, keine Regeln, keine Erwachsenen — und niemals selbst erwachsen werden.
Doch die Insel ist nicht nur voller Abenteuer, sondern auch voller Gefahren, die aus lausbubenhaftem Spiel im Handumdrehen blutig tödlichen Ernst machen. Und nach ungezählten Sommern ist es Jamie leid, immer neue Gräber zu graben, während Peter die Toten ignoriert, um sein ewiges Spiel nicht zu trüben.

Cover von Christina Henry: Lost Boy

Lost Boy ist von der romantisch verklärten Welt eines Disney-Pans sehr weit entfernt. In Christina Henrys Interpretation des Klassikers von James Matthew Barrie zeigt sich nur zu Beginn noch ein schon stumpf gewordener Rest des vermeintlichen Glanzes der märchenhaften Zauberwelt Peter Pans, in der niemand seiner „Jungs” erwachsen werden muss. Es geht auch gar nicht so sehr darum, ob sie erwachsen werden müssen, vielmehr darum, ob sie es dürfen. Sie dürfen es nämlich nicht; ebenso wie sie die Insel nicht verlassen oder Peters Freundschaft ablehnen dürfen.

Nie aufzuwachsen, immer ein Junge bleiben zu müssen und die Augen vor einer brutalen Wirklichkeit zu verschließen, ist eine Horrorvision, die Christina Henry in aller psychologischer Subtilität und viszeraler Deutlichkeit ausbuchstabiert. Henrys Peter Pan ist nicht nur eine Allegorie auf die naive Idee ewiger Jugend, sondern die monströse Personifikation von Narzissmus, Realitätsflucht und Selbstgerechtigkeit. Henrys Peter reicht es nicht, wie in der Version von Berrie, die Reale Welt einfach zu vergessen, um ewig jung zu bleiben: Für ihn muss Blut fließen. Das Blut unverdorbener Jugend.

Henrys Lost Boy ist eine bis zur letzten Seite fesselnde, schockierende und erschütternde Interpretation der Geschichte der ewigen Jungs im Nimmerland — und absolut keine Kindergeschichte.

Christina Henry: Lost Boy
London: Titan Books 2017
318 Seiten, Taschenbuch
7,99 £


Zwischen Dorfidyll und Mondkratern: Arno Schmidts „KAFF auch Mare Crisium“

Was hasdu heut Nachmittag eigntlich mit dem ‚helleborosen Farrago‘ gemeent?“ ; Hertha ; tiefsinnich. : „Einen ‚nieswurzwürdijen Mischmasch‘.“ – Aber ihr einzijer Dank beschtant in 1 wüstn Blick. Dann fiel ihr was ein : „Also ‚eine echte Bereicherunk im Sinne der tria corda des Ennius‘“, leierte sie haßvoll=auswenndich. Und TH ließ die Augn behaaklich zwischen uns hin & her gehen. „Was’n Tühnkram, nich?“ sagte sie liebevoll : „Deswegen ischa auch nix aus ihm gewordn : weil er den Kopf immer zu voll von seuchn Zeuch hadde. – Aber man wird’a guder Laune von, Mädchen.“ setzte sie mahnend hinzu : „Ich finnd‘ : wenn Einer mehr als bloß seine ‚Tausn Worde Deutsch‘ kann – man bleibt, auch als Frau=da – “ ( sie fingerte nach dem betreffenden Ausdruck ) : „ – Beweeklicher, nich. Oder?“ (S. 116)

Ein Kaff in Niedersachsen, 1960. Hertha und Karl, Angestellte aus der Stadt, besuchen in ihrer (Schlesierin, als junges Mädchen geflohen) Isetta seine (Kriegsveteran, vergeistigter Antimilitarist) Tante Heete (TH). Dorfidyll mit schmutzigen Kühen, Bauernleben und Dorftheater. Es riecht nach Kohleofen und Sülze mit Bratkartoffeln. The simple life. Parallel dazu, in seiner (Phantast, Worte=Schmied) Erzählung an sie (traum-a-tisiert, verunsichert), eine post-nukleare Kolonie der Amerikaner auf dem Mond. Science Fiction in Badehosen (wegen der Temperatur, Grünhauseffekt), die Farce eines Parlaments mit Kriegz=Minister (stehendes Herr: 2 Mann) und glühendem Patriotismus, dafür ohne Klopapier und praktisch ohne langfristigen Plan. Auf der dunklen Seite eine Kolonie der Russen. Pragmatischer, ohne Pathos und deutlich überlebensfähiger, weil man das Problem der Überalterung und das der Unterversorgung mit Proteinen in einem Zug gelöst hat.

Arno Schmidt: KAFFAuf Erden dann ein Angebot, Geistes- und Landleben zusammenzulegen. Den Eskapismus als maximale Kritik an Wirtschaftswunder und Wiederaufrüstung zu zelebrieren und – ganz uneigennützig von TH – das Erbteil vor der tumben Verwandtschaft zu retten.

Die eigentliche Handlung bleibt im Grunde belanglos und in ihrer Belanglosigkeit der Szenerie angemessen. Was KAFF auszeichnet, ist Arno Schmidts Spiel mit der Sprache. Sein gänzlicher Verzicht auf und Bruch mit orthographischen Konventionen. Schmidt entwickelt im KAFF seine lautmalerische Sprache, verknüpft mehrere Erzählebenen und zugleich ländlichen Realismus mit futuristischer Science Fiction. Damit verweist KAFF bereits auf Schmidts Spätwerk und Opus Magnum Zettels Traum, jedoch ohne dessen enorme und stellenweise unzugängliche Komplexität.

Schmidts Sprache und Stil sind bewusste und radikale Brüche mit der Konvention der Literatur der Bundesrepublik in den 60ern. Über seine anfangs gewöhnungsbedürftige, trotz ihrer scheinbaren Willkürlichkeit aber schnell eingängigen Otto=gra=vieh vermittelt Schmidt seine deutliche Kritik am Einfach-Weiter der BRD. Als sprachlicher Rebell stellt er sich gegen das Gewohnte und protestiert auf allen Ebenen gegen die unterlassene Aufarbeitung der Nazizeit, die deutsche Teilung, Wiederaufrüstung und verpasstes Wirtschaftswunder, Besatzung und den Kalten Krieg. Sprache ist ihm Mittel der Wahl, doch wird die Kritik auch in den Unterhaltungen der Figuren deutlich und letztlich in der Farce eines postnuklearen kalten Krieges auf dem Mond ironisch auf die Spitze getrieben. Mein persönlicher Favorit ist der hohle Heroismus in der verfremdeten Version des Nibelungenlieds des amerikanischen Nazional-Dichters auf dem Mond. Der beschworene Nibelungenwille zum patriotischen Durchhalten kann, nicht einmal 20 Jahre nach Stalingrad, nur zynisch-bitter schmecken.[1]

Im Grunde ist es daher schade, dass Schmidts Duktus heute in dieser Form nicht mehr funktionieren würde. Spuren davon mögen sich in 1 von der facebookisierten ich-schreibe-wie-meine-finger-halt-die-tasten-treffen-Mentalität geprägten Jugendsprache finden, seine kritische, subversive Kraft hat der bewusste (und damit sowohl absichtliche als auch gezielt-gedankenvolle) Bruch jeglicher orthographischer Regeln aber längst verloren.[2] Heute jedoch wird das Spiel zum Meme, zur bloßen popkulturellen Hülse, die man ein paar Wochen herumkrakeelt, bevor selbst der Bayerische Rundfunk auf den Zug aufspringt und sich die Influencer auf Twitter einen neuen Gag ausdenken müssen, um im immerwährenden Sozialmediengekreisch aufzufallen. Arno Schmidt hätte es vermutlich trotzdem amüsiert. Vong intelleggd her.

Arno Schmidt: KAFF auch Mare Crisium
Frankfurt: S. Fischer 1980
368 Seiten, Taschenbuch
9,95 €

[1] Einen tiefer gehenden Zugang bietet das Projekt mare crisium. das in Kooperation mit der Arno Schmidt Stiftung Bargfeld Materialien zum Text, Erläuterungen und Hintergründe sammelt. Eine Fundgrube, die den Zettelkästen des Autors angemessen ist!

[2] Übrigens nutzte bereits im Jahrhundert zuvor Oskar Panizza phonetische Orthographie zur Obrigkeitskritik. Dass ihn Schmidt kannte, darf getrost angenommen werden, auch wenn Panizzas Texte erst in den 60ern langsam wieder rezipiert wurden.