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Überhaupt, diese Massenbewegungen

Wenn von so vielen jeder nur ein wenig beisteuert, so genügt es, um ihn in Stücke zu zerreißen. Überhaupt habe ich diese Massenbewegungen gern. Keiner will Besonderes dazutun, und doch gehen die Wellen immer höher, bis sie über allen Köpfen zusammenschlagen. Ihr werdet sehen, keiner wird sich rühren, und es wird doch einen Riesensturm geben. So etwas in Szene zu setzen, ist für mich ein außerordentliches Vergnügen.

Musil, Robert: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 1989, S. 115.


Erinnerungen in Sepia: Ossip Mandelstams „Reise nach Armenien“

1930 gelingt es dem russischen Dichter Ossip Mandelstam, seine lang ersehnte Reise nach Armenien anzutreten. Für ein paar Monate kann er freie Luft atmen und aus den Zwängen der Sowjetunion ausbrechen. Während dieser Zeit entsteht Die Reise nach Armenien, der letzte Aufschrei eines unterdrückten Dichters, der sich mit aller Kraft gegen den Druck eines diktatorischen Regimes stemmt. Eines Dichters, der schließlich in der Verbannung stirbt. Acht Monate lang reist er durch Armenien; seine Erlebnisse sind ein letztes Atemholen vor der nächsten, entscheidenden Verfolgungswelle.

Ossip Mandelstam: Die Reise nach ArmenienDas Auge wird für ihn zum wichtigsten Organ: „Mein Buch spricht davon, daß das Auge ein Instrument des Denkens ist, daß das Licht eine Kraft und daß das Ornament Gedanke ist.“ Das Sehen steht für Mandelstam noch vor allen anderen Sinnen, mit denen er die Eindrücke Armeniens in sich aufnimmt und die er zu seiner bildreichen Poesie vearbeitet.

Armenien, das Land der ersten christlichen Kultur, ist der Ursprung, die Wurzel der Zivilisation. Es ist dieser Ort, an dem Mandelstam versucht, Atem zu holen und den Blick frei schweifen zu lassen. Was entsteht, ist die Poesie der Augenblicke einer längst vergangenen Zeit. In Armenien scheint die Zeit langsamer zu verrinnen, rund um den Berg Ararat hat sich eine Wolke der Freiheit verhangen, die nur sehr langsam verfliegt. Mandelstams Essays bieten flüchtige Momentaufnahmen, die im Geiste sepiafarbene Erinnerungsbilder formen.

Die Raue Natur und die Reinheit der Menschen bieten einen scharfen Kontrast zur sich entwickelnden Moderne und Anonymität der Städte. Doch Mandelstam verbindet beide Welten, schweift durch die ungezähmte Natur und erörtert entscheidende philosophische Fragen seiner Zeit. Er verbindet die Natur mit den Meistern des Impressionismus und übt zugleich scharfe Kritik an der Gleichschaltung der Sowjetliteratur, indem er bewusst mit deren Verordnungen bricht. Seine Gedankensplitter folgen keiner äußeren Logik; Sprünge und Brüche beherrschen ein Gesamtbild, welches immer wieder von Kontrasten und plötzlichen Assoziationen aufgebrochen wird. Und so entstehen die raschen Wechsel zwischen seinen philosophisch-philologischen Betrachtungen und überschäumenden Naturmetaphern, die kaum erfassen können, welch unbändige und ursprünglichen Kräfte auf ihn einwirken. Und immer wieder ist es das Auge des Lesers, welches angeregt werden soll, die oberen, offensichtlichen Schichten zu durchbrechen und vorzustoßen in tiefere, bedeutendere Schichten des Sehens.

Mandelstams Reise ist ein Plädoyer für die Ursprünglichkeit und Freiheit der armenischen Bevölkerung. Und für die Freiheit des Geistes, der Wissenschaft und des Menschen. Sie ist dichte, schillernde und vielseitige Prosa, die den Leser einen Hauch jener Freiheit schmecken lässt, die Mandelstam in Armenien fand und erlebte.

Ossip Mandelstam: Die Reise nach Armenien.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007 (erstmals veröffentlicht 1983)
152 Seiten, gebunden
15,95 €

Rezension erschienen in: rezensöhnchen – Zeitschrift für Literaturkritik 41 (2007), S. 16.