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Glücklich ist, wer vergisst: Willi Winklers „Das Braune Netz“

„Das Außen-, das Justiz- und zuletzt das Innenministerium wurden auf ihre Geschichte hin durchleuchtet, und überall fanden sich, o Wunder: Nazis. Nazis saßen im Bundestag, in den Länderparlamenten, in sämtlichen Behörden und Ministerien, in der Polizei, in der Justiz, sie saßen in der Regierung und sie saßen zu Gericht, in manchen Fällen sogar über ihre ehemaligen Opfer. Die frühe Bundesrepublik war ein einziger Skandal. Eine Partei der früheren NSDAP-Mitglieder hätte bis in die sechziger Jahre die größte Fraktion im Bundestag stellen können. Neunzig Prozent aller Berufssoldaten der neuen Bundeswehr hatten bereits in der alten Wehrmacht gedient. Der Boden, über den er geht, ist unheimlich, schreibt Golo Mann. Aber die frühe Bundesrepublik hat schnell gelernt, auf diesem Boden und auf ihrer Vergangenheit zu leben, gern auch zu tanzen.“ (S. 15f.)

1945 lag Deutschland und mit ihm Europa in Trümmern. Das „1000-jährige Reich“ war nach zwölf Jahren untergegangen und hinterließ den Überlebenden eine moralische Hypothek, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit kaum zu fassen, geschweige denn zu tragen schien. Wie am Morgen nach dem Exzess starrte eine erwachte Bevölkerung auf den Scherbenhaufen und konnte sich vermeintlich nicht erinnern, wie es dazu hatte kommen können.

Gleichzeitig musste es irgendwie weitergehen, ein neuer Staat aufgebaut und gegen den Rückfall in den Exzess verteidigt werden. Das „Dritte Reich“ war zwar besiegt, nicht aber der Nazismus. Die Überlebenden des alten Systems wurden Teil des Neuen. Während in Nürnberg die Hauptverantwortlichen öffentlichkeitswirksam verurteilt und größtenteils hingerichtet wurden, gelang es Millionen von Mittätern und Mitläufern, in das neue, nun endlich demokratische System zu wechseln. Immerhin war ihre Expertise gefragt. Nicht alle Positionen konnten mit Exilanten und Widerständlern besetzt werden.

Willi Winkler arbeitet in Das Braune Netz minutiös heraus, an welchen Stellen es ehemaligen Nazis gelang, sich in der Bundesrepublik einzurichten. Das geschah mal aus Opportunismus, mal aus Pragmatismus; mal wurden Lebensläufe geschönt, manchmal neu erfunden und zweifellos gab es viele ehemalige Nazis, die sich glaubhaft geläutert aus Überzeugung am Aufbau des neuen Staats beteiligten. Dennoch richtete die rasche Assimilation der Kriegsverbrecher einen kaum zu beziffernden moralischen Schaden an. Diesen zu verdeutlichen ist das Ziel von Winklers Arbeit.

„Hätte [Hanns Martin] Schleyer neben [Reinhard] Heydrich im Auto gesessen und wäre mit ihm gestorben, wäre der Mord an ihm jedenfalls später eine politisch und moralisch zu rechtfertigende Tat gewesen. SS-Untersturmführer Schleyer saß nicht neben ihm, er kannte Heydrich vermutlich nicht näher, aber er wohnte in Prag in einer von Juden requirierten Villa, konnte rechtzeitig vor dem Eintreffen der sowjetischen Truppen fliehen, kam mit drei Jahren Internierung davon (im Lebenslauf höflich umschrieben als Kriegsgefangenschaft), stieg bei Daimler-Benz in den Vorstand auf und wurde der Arbeitgeberpräsident, der mit Bundeskanzler Helmut Schmidt ebenso gut verhandeln konnte wie mit dem ehemaligen Kommunisten Willi Bleicher, dem Stuttgarter IG-Metall-Chef, der das „Dritte Reich“ zum größten Teil im KZ Buchenwald verbracht hatte.“ (S. 23f.)

Winklers Buch ist eine Fleißarbeit, die unermüdlich Nazi-Vergangenheiten auflistet. Kleine Mitläufer und handfeste Mittäter, die sich als erstaunlich moralisch flexibel erwiesen und mal mehr, mal weniger auskömmliche Posten in der neuen Bundesrepublik besetzten. Weich gefallen sind sie fast alle; geschützt von Amnestie und allgemeinem Verdrängungsimpuls war ihre Nazi-Vergangenheit kaum je ein Einstellungshindernis. Die Karrieren vor dem Krieg sind dabei so vielfältig wie die in der Bundesrepublik: Hans Globke (Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze und Hauptverantwortlicher für die Namensänderungsverordnung, später Chef des Bundeskanzleramts und rechte Hand Adenauers), Reinhard Gehlen (Generalmajor der Wehrmacht, Gründer der „Organisation Gehlen“, die später mit ihm als Chef zum BND wurde), Hermann Höcherl (NSDAP seit 1931, Leutnant der Wehrmacht, Innenminister 1961-65), Theodor Saevecke (SS-Hauptsturmführer, NSDAP seit 1929, BKA seit 1952, Einsatzleiter während der Besetzung der Spiegel-Redaktion 1962) und viele andere mehr.

„‚Ich bin gezwungen worden, ‚Jud Süß‘ zu drehen‘, trotzte dagegen der arme Verfolgte. ‚Warum soll ich mich jetzt dafür entschuldigen?‘ Veit Harlaan hatte wirklich schwer zu tragen, erst an seinem Ruhm im ‚Dritten Reich‘ und danach wieder an seinem Ruhm im ‚Dritten Reich‘. Der Gutachter Herbert Kraus empfahl, ‚den Mantel des Vergessens über das Dunkel der hinter uns liegenden Zeit zu bereiten‘. Worüber beklagten sich die Juden eigentlich? Der Vorsitzende Richter Walter Tyrolf verfiel in der Urteilsbegründung auf das irrsinnigste aller Argumente: ‚Hätten die Juden nicht schon damals, 1940/41, ins Kino gehen und Strafantrag wegen Beleidigung stellen können?‘ Doch, genau so heißt es in der Begründung des Landgerichts Hamburg, Schwurgericht II, Urteil vom 29. April 1950.“ (S. 236)

Das Braune Netz ist gefüllt mit solchen Beispielen. Sie provozieren ein kaum zu greifendes Unverständnis für die groteske historische Ungerechtigkeit, die in einer ebenso historischen Perversion einen der freiesten, erfolgreichsten und international geachtetsten Staaten Europas hervorbrachte. Tyrolf (NSDAP seit 1937), der als Staatsanwalt an Todesurteilen wegen „Rassenschande“ mitwirkte, wehrte sich übrigens gegen ein Ende der 50er gegen ihn laufendes Ermittlungsverfahren mit der Begründung, er sei „der Letzte, welchem man den Vorwurf machen könnte, dabei sich ‚die Hände mit Blut befleckt‘ zu haben“ (S. 237). Das Verfahren wurde eingestellt.

Winkler neigt zur spitzen, nicht immer ganz wertungsfreien Formulierung. Er ist ein scharfer Beobachter, der Sachverhalte vorlegt und erschütternde Details aus den Biographien sprechen lässt, die von den Personen selbst aus ersichtlichen Gründen häufig lieber verschwiegen worden waren. Winkler blickt unnachgiebig auf ein sumpfiges Milieu, das gute Arbeit geleistet hat, wenig beachtet zu werden. Das liest sich fesselnder als mancher Kriminalroman, wirkt zuweilen aber etwas atemlos, wenn Winkler von Anekdote zu Anekdote springt, als würde die Kaskade der moralischen Ungeheuerlichkeiten gar nicht mehr versiegen.

Sie ist in der Tat lang, die Liste dieser Ungeheuerlichkeiten. Spiegel-Affäre und Wiederbewaffnung, Amnestie und Freisprüche für Kriegsverbrecher, der öffentliche Umgang mit NS-Opfern und nicht zuletzt der fast fanatische Antikommunismus der frühen Bundesrepublik waren letztlich kaum ohne die Beteiligung der „Alten Kämpfer“ denkbar. Die junge Bundesrepublik suchte nach dem Kitt, um den neuen Staat zusammenzuhalten und griff nach der bewährten Methode des Zusammenschlusses durch Ausgrenzung.

Über die paranoide Verfolgung des Kommunismus und dessen Dämonisierung zum absoluten Staatsfeind – von Winkler präzise als Hauptargument herausgearbeitet – gelang es nicht nur, die Bundesrepublik als treuen Verbündeten der Westmächte zu etablieren und die alten Kader (wegen ihrer wiederum unentbehrlichen Erfahrung) zu rehabilitieren, sondern auch – sozusagen als bitterer Treppenwitz – eine makabere Traditionslinie der Identität über Negativabgrenzung herzustellen: vom NS-Antisemitismus über den Antikommunismus bis zum heutigen Rechtspopulismus. Ob etwa die über Jahrzehnte hartnäckig als Sündenbock genutzte „Rote Kapelle“ in der Bundesrepublik überhaupt existierte, geschweige denn eine Gefahr darstellte, spielte damals ebenso wenig eine Rolle, wie der Wahrheitsgehalt heutiger Propaganda gegen Zuwanderer.

Winklers Arbeit mag angesichts der suggerierten Alternativlosigkeit der zeitgeschichtlichen Abläufe zu Verdrossenheit und Entsetzen verleiten – und doch steht über ihr ein großes „Trotzdem“. Der damals so fragile Rechtsstaat ist nicht zusammengebrochen; das Reaktionäre hat sich nicht durchsetzen können. Trotz der moralischen Hypothek entstand aus den Trümmern des „Dritten Reichs“ die heutige Bundesrepublik Deutschland. Es ist Winklers Verdienst, diesen Widerspruch schonungslos aufzuzeigen und zugleich einen Erklärungsversuch anzubieten. Neben den von Winkler aufgefahrenen Beispielen des Opportunismus und Verdrängens kommen die zivilgesellschaftlichen Veränderungen, die letztlich zur Überwindung des „braunen Netzes“ geführt haben, allerdings etwas zu kurz. Das Braune Netz ist dennoch ein Beitrag zum Verständnis der Überlebenslügen der frühen Bundesrepublik – und ein ebenso wichtiges Puzzleteil zum Verständnis der Gegenwart.

Willi Winkler: Das Braune Netz. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde
Berlin: Rowohlt 2019
416 Seiten, gebunden
22,00 €


Am Rande des Krieges – Robert Harris‘ „Munich“

„‚This is the thing, Hugh. This is what we could never grasp in Oxford – because it’s beyond reason; it’s not rational.‘ He waved the cigarette as he spoke, his right hand on the wheel, his eyes fixed on the road ahead. ‚This is what I have learned these past six years, as opposed to what is taught in Oxford: the power of unreason. Everyone said – by everyone I mean people like me – we all said, „Oh, he’s a terrible fellow, Hitler, but he’s not necessarily all bad. Look at his achievements. Put aside this awful medieval anti-Jew stuff: it will pass.“ But the point is, it won’t pass. You can’t isolate it from the rest. It’s there in the mix. And if the anti-Semitism is evil, it’s all evil. Because if they’re capable of that, they’re capable of everything.‘ He took his eyes off the road just long enough to look at Legat. His eyes were wet. ‚Do you see what I mean?'“

Im September 1938 stand der Krieg vor den Toren Europas. Seit dem Frühjahr hatte Adolf Hitler mit planmäßiger Vehemenz die sogenannte Sudetenkrise immer weiter eskaliert, um einen Krieg mit der damaligen Tschechoslowakei zu provozieren. Nach dem „Anschluss“ Österreichs sollten auch die von den Sudetendeutschen bewohnten Gebiete „heim ins Reich“ geholt werden – und ganz nebenbei auch die tschechoslowakischen Befestigungsanlagen und Rüstungsbetriebe. Noch am 28. September 1938 sah alles danach aus, als würde das vom Reich gestellte Ultimatum zu einem Einmarsch der Wehrmacht und unmittelbaren Kriegshandlungen führen.

In diese bedrückende Stimmung, angesichts derer in London Luftschutzanlagen errichtet und Gasmasken angepasst werden, setzt Robert Harris die Handlung seines jüngsten Romans Munich. Auf der einen Seite, in No. 10 Downing Street, sucht die britische Regierung fieberhaft nach einem Weg, den Krieg in Europa zu verhindern oder zumindest aufzuschieben. Auf der anderen Seite, im reichsdeutschen Auswärtigen Amt, gibt man berauscht vom eigenen Aufstieg wenig auf die Bemühungen der Alliierten. Im Mittelpunkt stehen der junge Sekretär und Übersetzer Hugh Legat und sein deutsches Gegenüber Paul von Hartmann, Mitglied einer dem Kreisauer Kreis ähnelnden Widerstandsgruppe und Studienfreund Legats aus Oxforder Zeiten.

Diesen Figuren gibt Harris eine winzige Möglichkeit des „Was wäre wenn“ an die Hand, eine winzige Chance, den Lauf der Geschichte und damit einen erneuten Weltkrieg zu verhindern. Hartmann ist im Besitz eines geheimen Memorandums, das Hitlers wahre Pläne, seine von Rassenwahn und Kriegslust geformte Vision vom „Lebensraum im Osten“, verschriftlicht und den Alliierten die Augen öffnen soll. Angesichts dieser Offenbarung, so der Plan, sollen es die Alliierten auf den Krieg ankommen lassen, um dadurch einen Putsch der vermeintlich wenig kriegswilligen Wehrmachtsführung auszulösen.

Doch Harris bleibt bei den Fakten. Es wird schnell klar, dass seine Protagonisten wenig Chancen haben, sich gegen den Lauf der Geschichte zu stemmen oder sie gar aus dem eingeschlagenen Gleis zu werfen. Munich entfaltet seine Spannung daher nur zum Teil aus der auf Harris-typisch hohem Niveau erzählten Agentengeschichte. Viel überzeugender und auf bedrückende Art fesselnd ist die von Harris geschilderte Stimmung in Europa zwischen Resignation, Widerstand und Fanatismus. In London symbolisieren verstaubte Korridore, altmodische Anzüge und Scotch mit Soda ein im Untergang begriffenes Weltreich, dem mit Neville Chamberlain ein alterndes und vermeintlich schwaches Staatsoberhaupt vorsteht. Im Reich hingegen stampfen machtberauschte Faschisten über die Reste der Kultur und verwandeln Parks in vulgäre Brachialmonumente deutscher Großmannssucht.

Munich wirkt wie ein Schwarzweißfilm, in dem nur die Fackeln und Hakenkreuzfahnen Nazideutschlands koloriert wurden. Der Roman erhält seine volle Bedrohlichkeit weniger durch die greifbare Überheblichkeit der Nazigrößen und die latente Gewalttätigkeit der SS-Männer im „Führerbau“, als vielmehr durch die historische Realität. Der Leser weiß um die Vergeblichkeit der Anstrengungen Chamberlains und Hartmanns. Es wird keinen Aufstand der Wehrmacht geben und auch Hitlers Zugeständnisse für einen anhaltenden Frieden in Europa sind angesichts der späteren Eskalation zynische Phrasen. Die Konferenz von München wird heute als letztes Versagen der Appeasement-Politik und Weichenstellung für den Zweiten Weltkrieg begriffen. Für Chamberlain war es der letzte Versuch, sich vor den Millionen Toten des Ersten Weltkrieges zu rechtfertigen und um jeden Preis den Frieden zu erhalten. Als er am 30. September 1938 wieder in England landete, jubelten ihm die Menschen auf den Straßen zu. Nicht einmal ein Jahr später fielen in Polen die ersten Schüsse.

Robert Harris: Munich
London: Hutchinson 2017
342 Seiten, Taschenbuch
£13,99


Büchertour #4: Diener des Rechts und der Vernichtung

Historisch Interessierten ist Fritz Bauer vor allem wegen dessen bedeutsamer Rolle bei der Überführung Adolf Eichmanns nach Israel und den Frankfurter Auschwitz-Prozessen ein Begriff. Da in der bundesdeutschen Vergangenheitsbewältigung in der Regel aber lieber über die erfolgreichen Fälle gesprochen wird, sind die weniger erfolgreichen Anstrengungen Bauers in der Verfolgung von NS-Verbrechen weniger bekannt. Mit einem dieser Fälle, dem sogenannten Schlegelberger-Verfahren, befasst sich Christoph Schneider in seiner Monographie Diener des Rechts und der Vernichtung. Das Verfahren gegen die Teilnehmer der Konferenz von 1941 oder: Die Justiz gegen Fritz Bauer, die der Kulturwissenschaftler am 23. Januar in der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz in Mainz vorstellte.

„Das Schlegelberger-Verfahren ist trotz, oder besser gesagt, wegen seiner eigentümlichen Unsichtbarkeit der Inbegriff jener Momente der NS-Aufarbeitung, denen nichts Vorbildliches zukommt.“ (C. Schneider, S. 14)

Im April 1941 versammelte sich im Berliner „Haus der Flieger“ die vollständige Spitze der damaligen reichsdeutschen Justiz: neben dem Reichspräsidenten, den Oberreichsanwälten und weiteren hohen Vertretern auch die Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte aller Oberlandesbezirke des Deutschen Reichs und der zu diesem Zeitpunkt annektierten Gebiete. Insgesamt weit über 100 Personen der juristischen Elite folgten der Einladung von Franz Schlegelberger – damals Geschäftsführer des Reichsjustizministeriums – nach Berlin.

Zu diesem Zeitpunkt liefen bereits seit 16 Monaten die heute als „Aktion T4“ bekannten Euthanasie-Morde. Die Aktion hatte im gesamten Reichsgebiet die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ zum Ziel – und keinerlei Rechtsgrundlage. Selbst im „Dritten Reich“ waren die Säuberungen unter Kranken und Menschen mit Behinderung strafrechtlich Mord. Die Aktionen wurden daher verschleiert und mit gefälschten Dokumenten nachträglich scheinbar legalisiert. Dennoch kam es im Ablauf immer wieder zu „Störungen“: Gerichte erkundigten sich nach plötzlich verschwundenen Angeklagten, Hinterbliebene zweifelten Todesumstände an, Prozesse um Nachlässe zogen sich hin.

Da schon Schlegelbergers Vorgänger, Reichsjustizminister Franz Gürtner, auf die fehlende Rechtsgrundlage hingewiesen hatte, mit seinem Ersuchen um einen entsprechenden Erlass aber gescheitert war, entschied sich Schlegelberger zu einem außergewöhnlichen Verfahren: Er lud die gesamte juristische Führung nach Berlin und ließ ihnen von zwei hochrangigen Vertretern der zuständigen Zentraldienststelle T4 das gesamte Mordprogramm in aller Deutlichkeit erläutern. Anschließend wurde der Beschluss verkündet, sämtliche als „Störung“ aufzufassende Verfahren künftig ohne weitere Bearbeitung direkt an allen Instanzen vorbei ans Reichsjustizministerium weiterzuleiten. Damit einigten sich die Juristen auf eine Aussetzung des geltenden Rechts, ohne dass dies in irgendeiner Form kodifiziert oder verordnet wurde.

Dies ist aus mehreren Gründen bemerkenswert: Während andere, ähnliche Entscheidungen im kleinen Kreis getroffen wurden (die Wannsee-Konferenz hatte 15 Teilnehmer), versammelten sich in Berlin weit mehr als 100 hochrangige Justizvertreter. Die bisherige Geheimhaltung der Morde wurde aufgegeben; auf der Konferenz von 1941 wurde Klartext gesprochen und die gesamte Mord- und Verschleierungspraxis erläutert. Die Vertreter der Konferenz schufen in einer einzigartigen Plenarsituation eine Art Recht vorbei an den üblichen Wegen. Und nicht zuletzt: Die Konferenzteilnehmer gaben durch ihre allgemeine und widerspruchslose Zustimmung eine im besonderen Maße schutzbedürftige Bevölkerungsgruppe kollektiv der Vernichtung preis und ermöglichten dadurch den reibungslosen Ablauf der „Aktion T4“.

Umso bemerkenswerter, dass Christoph Schneider mit seinen Nachforschungen eine bis heute blinde Stelle in der NS-Aufarbeitung präsentiert. Dabei sind Schneiders Erkenntnisse keineswegs wirklich neu. Schon 1947/48 wurde die Konferenz von 1941 im Hadamar-Prozess in Frankfurt aktenkundig. Zu einem Verfahren gegen die Konferenzteilnehmer kam es unmittelbar nach dem Krieg jedoch nicht. Erst 1960 wurde auf persönliche Initiative von Fritz Bauer hin in Frankfurt ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, dass jedoch umgehend nach Stuttgart abgegeben wurde und dort auf die Halde kam. Nach erheblichen Verschleppungen und Behinderungen konnte erst im Jahr 1967 mit den Voruntersuchungen begonnen werden; zu diesem Zeitpunkt gegen ganze 13 ehemalige Konferenzteilnehmer.

Diese reagierten entsprechend empört darauf, dass man das Recht auf sie zurückwirken ließ. Schneider legt in seiner Arbeit ausführlich die wiederkehrenden Argumentationsmuster der Beteiligten dar, die sich allzu oft dahinter versteckten, nur Teil einer unaufhaltsamen Maschinerie gewesen zu sein, und am Terror von SS und Gestapo ohnehin nichts hätten ändern können. Schweigen sei nicht als Zustimmung zu deuten, eine Diskussion der Vorgehensweise weder gewünscht noch möglich gewesen. Doch auch nach Prozessaufnahme kam es zu Verschleppungen, Prozessbehinderungen und Verzögerungen. Immer mehr der Konferenzteilnehmer starben oder ließen sich prozessunfähig schreiben. Im Jahr 1970, zehn Jahre nach Prozessbeginn und zwei Jahre nach dem Tod Fritz Bauers, wurde das Verfahren mit einem neunzeiligen Beschluss eingestellt, die vier verbliebenen Konferenzteilnehmer außer Vollzug gestellt. In der Öffentlichkeit war das Verfahren zu diesem Zeitpunkt schon in Vergessenheit geraten.

„Die Frage der allfälligen Dienstbarkeit des Rechts für jede Herrschaft kam entweder gar nicht zur Sprache oder wurde als Frage individueller Verfehlungen erörtert. Wenn aber das gesamte Corps der höchsten Juristen einer modernen Nation eine gegen jede Rechtsauffassung verstoßende systematische und anhaltende Mordpraxis hinnimmt und deckt, stehen größere Fragen an als die nach persönlichem Fehlverhalten.“ (C. Schneider, S. 11)

Schneiders Arbeit ist an dieser Stelle noch nicht beendet, sondern erweitert sich um eine dritte Zeitebene. Im Jahr 1978 wird die Anfrage des Richters Helmut Kramer „nach der eventuellen Existenz eines solchen Strafverfahrens“ zuerst ohne Auskunft zurückgewisen. Nachdem sich Kramer die Einsicht in die Dokumente erstritten hatte, erhielt er sparsame 95 Blatt Kopien aus den insgesamt 47 Bände umfassenden Prozessakten für den von ihm angestrebten Beitrag in einer juristischen Fachzeitschrift. Kramers Beitrag erzeugte dann tatsächlich Aufmerksamkeit, vor allem aber schwere Anschuldigungen eines Teilnehmernachkommens, infolge derer Kramer 1984 ein Zivilverfahren einleitete.

Wieder kam es zu erheblichen Verschleppungen und Verzögerungen. Das Verfahren, in dem auch die Konferenz von 1941 ein wichtiger Gegenstand war, zog sich über insgesamt sechs weitere Jahre hin und endete 1990 klanglos in einem Vergleich. Besonders bemerkenswert: Als Kramer die Akten des Schlegelberger-Verfahrens als Beweismittel anführen wollte, waren diese nicht auffindbar. Angeblich seien sie bei der Überführung an das Amtsgericht Bonn (ein Weg von 150 Metern) verschollen. Erst 1989 tauchten die Akten unter dubiosen Umständen bei der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt auf. Einen wirklichen Abschluss, eine wirklich ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema hat es bis heute jedoch nicht gegeben. „Das Thema ist längst nicht durch“, resümierte Schneider in Mainz.

Schneider führt die juristischen Verstrickungen, Verschleppungen und Behinderungen akribisch, sorgfältig und verständlich auf. Man merkt ihm und seiner Arbeit an, dass er weder Jurist noch Historiker, sondern Kulturwissenschaftler ist. Ihn treiben nicht die juristischen Spitzfindigkeiten um, sondern die berechtigte Frage, wie die komplette juristische Führung des „Dritten Reichs“ aus zum überwiegenden Teil noch im Kaiserreich sozialisierten und gut situierten, einflussreichen Männern, kollektiv den institutionalisierten und systematischen Mord einer ganzen Bevölkerungsgruppe hinnehmen konnte. Spürbar ist aber auch Schneiders Frustration darüber, wie das Thema in der Bundesrepublik von Anfang an unterdrückt und verschwiegen wurde. In den 1960er-Jahren, einer Zeit, die stets als positive Zäsur in der NS-Aufarbeitung betrachtet wird, wurde die Auseinandersetzung mit den Verstrickungen der Justiz in die NS-Verbrechen aktiv unterdrückt und tabuisiert. Bis heute, so Schneiders Fazit, versteht es die Justiz der Bundesrepublik sehr erfolgreich, das Vorhandensein der Thematik unter den Teppich zu kehren.

Mit seiner Arbeit hebt Schneider die Bedeutung des Schlegelberger-Verfahrens für das Verständnis der deutschen Vergangenheitsbewältigung erheblich. Dabei geht es ihm nicht nur um die Widerstände der Justiz, sich mit ihrere eigenen Vergangenheit zu befassen, sondern auch um das Bild Fritz Bauers. Während Bauers Erfolge oft als Musterbeispiel für die positive Auseinandersetzung der Bundesrepublik mit der NS-Vergangenheit aufgeführt würden, seien auch Bauers Misserfolge wichtige Quellen für das Verständnis der bundesdeutschen Widerstände gegen die NS-Aufarbeitung. Zugleich verdeutlicht Schneider die Bedeutung der eigentlichen Konferenz von 1941, die mit Blick auf die Euthanasie-Morde als Beginn des Holocausts die folgenschwere Anpassung der Justiz an den Vernichtungsbetrieb markierte.

Christoph Schneider: Diener des Rechts und der Vernichtung. Das Verfahren gegen die Teilnehmer der Konferenz von 1941 oder: Die Justiz gegen Fritz Bauer
Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Band 30
Frankfurt am Main: Campus Verlag 2017
242 Seiten, gebunden
29,95€

Vortrag und Lesung mit Christoph Schneider fanden am 23. Januar 2018 als Kooperationsveranstaltung der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz mit dem Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. im Rahmen der Veranstaltungsreihe zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2018 statt.