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Zwischen Dorfidyll und Mondkratern: Arno Schmidts „KAFF auch Mare Crisium“

Was hasdu heut Nachmittag eigntlich mit dem ‚helleborosen Farrago‘ gemeent?“ ; Hertha ; tiefsinnich. : „Einen ‚nieswurzwürdijen Mischmasch‘.“ – Aber ihr einzijer Dank beschtant in 1 wüstn Blick. Dann fiel ihr was ein : „Also ‚eine echte Bereicherunk im Sinne der tria corda des Ennius‘“, leierte sie haßvoll=auswenndich. Und TH ließ die Augn behaaklich zwischen uns hin & her gehen. „Was’n Tühnkram, nich?“ sagte sie liebevoll : „Deswegen ischa auch nix aus ihm gewordn : weil er den Kopf immer zu voll von seuchn Zeuch hadde. – Aber man wird’a guder Laune von, Mädchen.“ setzte sie mahnend hinzu : „Ich finnd‘ : wenn Einer mehr als bloß seine ‚Tausn Worde Deutsch‘ kann – man bleibt, auch als Frau=da – “ ( sie fingerte nach dem betreffenden Ausdruck ) : „ – Beweeklicher, nich. Oder?“ (S. 116)

Ein Kaff in Niedersachsen, 1960. Hertha und Karl, Angestellte aus der Stadt, besuchen in ihrer (Schlesierin, als junges Mädchen geflohen) Isetta seine (Kriegsveteran, vergeistigter Antimilitarist) Tante Heete (TH). Dorfidyll mit schmutzigen Kühen, Bauernleben und Dorftheater. Es riecht nach Kohleofen und Sülze mit Bratkartoffeln. The simple life. Parallel dazu, in seiner (Phantast, Worte=Schmied) Erzählung an sie (traum-a-tisiert, verunsichert), eine post-nukleare Kolonie der Amerikaner auf dem Mond. Science Fiction in Badehosen (wegen der Temperatur, Grünhauseffekt), die Farce eines Parlaments mit Kriegz=Minister (stehendes Herr: 2 Mann) und glühendem Patriotismus, dafür ohne Klopapier und praktisch ohne langfristigen Plan. Auf der dunklen Seite eine Kolonie der Russen. Pragmatischer, ohne Pathos und deutlich überlebensfähiger, weil man das Problem der Überalterung und das der Unterversorgung mit Proteinen in einem Zug gelöst hat.

Arno Schmidt: KAFFAuf Erden dann ein Angebot, Geistes- und Landleben zusammenzulegen. Den Eskapismus als maximale Kritik an Wirtschaftswunder und Wiederaufrüstung zu zelebrieren und – ganz uneigennützig von TH – das Erbteil vor der tumben Verwandtschaft zu retten.

Die eigentliche Handlung bleibt im Grunde belanglos und in ihrer Belanglosigkeit der Szenerie angemessen. Was KAFF auszeichnet, ist Arno Schmidts Spiel mit der Sprache. Sein gänzlicher Verzicht auf und Bruch mit orthographischen Konventionen. Schmidt entwickelt im KAFF seine lautmalerische Sprache, verknüpft mehrere Erzählebenen und zugleich ländlichen Realismus mit futuristischer Science Fiction. Damit verweist KAFF bereits auf Schmidts Spätwerk und Opus Magnum Zettels Traum, jedoch ohne dessen enorme und stellenweise unzugängliche Komplexität.

Schmidts Sprache und Stil sind bewusste und radikale Brüche mit der Konvention der Literatur der Bundesrepublik in den 60ern. Über seine anfangs gewöhnungsbedürftige, trotz ihrer scheinbaren Willkürlichkeit aber schnell eingängigen Otto=gra=vieh vermittelt Schmidt seine deutliche Kritik am Einfach-Weiter der BRD. Als sprachlicher Rebell stellt er sich gegen das Gewohnte und protestiert auf allen Ebenen gegen die unterlassene Aufarbeitung der Nazizeit, die deutsche Teilung, Wiederaufrüstung und verpasstes Wirtschaftswunder, Besatzung und den Kalten Krieg. Sprache ist ihm Mittel der Wahl, doch wird die Kritik auch in den Unterhaltungen der Figuren deutlich und letztlich in der Farce eines postnuklearen kalten Krieges auf dem Mond ironisch auf die Spitze getrieben. Mein persönlicher Favorit ist der hohle Heroismus in der verfremdeten Version des Nibelungenlieds des amerikanischen Nazional-Dichters auf dem Mond. Der beschworene Nibelungenwille zum patriotischen Durchhalten kann, nicht einmal 20 Jahre nach Stalingrad, nur zynisch-bitter schmecken.[1]

Im Grunde ist es daher schade, dass Schmidts Duktus heute in dieser Form nicht mehr funktionieren würde. Spuren davon mögen sich in 1 von der facebookisierten ich-schreibe-wie-meine-finger-halt-die-tasten-treffen-Mentalität geprägten Jugendsprache finden, seine kritische, subversive Kraft hat der bewusste (und damit sowohl absichtliche als auch gezielt-gedankenvolle) Bruch jeglicher orthographischer Regeln aber längst verloren.[2] Heute jedoch wird das Spiel zum Meme, zur bloßen popkulturellen Hülse, die man ein paar Wochen herumkrakeelt, bevor selbst der Bayerische Rundfunk auf den Zug aufspringt und sich die Influencer auf Twitter einen neuen Gag ausdenken müssen, um im immerwährenden Sozialmediengekreisch aufzufallen. Arno Schmidt hätte es vermutlich trotzdem amüsiert. Vong intelleggd her.

Arno Schmidt: KAFF auch Mare Crisium
Frankfurt: S. Fischer 1980
368 Seiten, Taschenbuch
9,95 €

[1] Einen tiefer gehenden Zugang bietet das Projekt mare crisium. das in Kooperation mit der Arno Schmidt Stiftung Bargfeld Materialien zum Text, Erläuterungen und Hintergründe sammelt. Eine Fundgrube, die den Zettelkästen des Autors angemessen ist!

[2] Übrigens nutzte bereits im Jahrhundert zuvor Oskar Panizza phonetische Orthographie zur Obrigkeitskritik. Dass ihn Schmidt kannte, darf getrost angenommen werden, auch wenn Panizzas Texte erst in den 60ern langsam wieder rezipiert wurden.


„The madmen are in Power.“ Philip K. Dicks: „The Man in the High Castle“

„Perhaps if you know you are insane then you are not insane. Or you are becoming sane, finally. Waking up. I suppose only a few are aware of all this. Isolated persons here and there. But the broad masses … what do they think?“ (S. 44f.)

Was wäre, wenn …? Eine Frage, die in der Evolution existenzieller menschheitsgeschichtlicher Fragen wohl unmittelbar nach Quo vadis? und dem ganz grundsätzlichen Warum? entstanden ist.  Was wäre also, wenn der Krieg anders verlaufen wäre?

Die Welt des Jahres 1962 ist aufgeteilt zwischen den Siegermächten. Nach dem Sieg der Achsenmächte über die Alliierten ist die Welt gespalten in die vom Deutschen Reich besetzten Gebiete und das Großreich Japan. Eine demilitarisierte, neutrale Zone trennt das frühere Gebiet der USA in die von Deutschland besetzten Gebiete an der Ostküste und die Pazifischen Staaten von Amerika an der Westküste. Beide Mächte regieren mit eiserner Faust, die amerikanische Kultur ist praktisch vollständig unterdrückt und überlebt lediglich in der neutralen Pufferzone und als romantisiertes Sammelobjekt der japanischen Besatzer.

dick_castleInmitten des amerikanischen Besatzungsalltags kursiert ein begehrter Roman. Im Westen frei erhältlich, im Osten als illegale Bückware, schildert The Grasshopper Lies Heavy eine alternative, schockierende und fesselnde Zukunft, in der die Alliierten den Krieg gewonnen haben und die USA zur Weltmacht aufgestiegen sind. Zurückgezogen von der Welt hütet dessen Autor Hawthorne Abendsen das Geheimnis seiner Inspiration für den Roman und schützt sich in seinem angeblich festungsgleichen Domizil, dem „High Castle“, vor den Mordversuchen des deutschen Sicherheitsdienstes.

„It is not hubris, not pride; it is inflation of the ego to its ultimate – confusion between him who worships and that which is worshipped. Man has not eaten God; God has eaten man.“ (S. 46)

Im Gegensatz zur gleichnamigen Amazon-Serie unternimmt Dick im Roman nicht den Versuch, eine spannende Agentengeschichte zu erzählen. Vielmehr ist das zentrale Motiv das ständige Bestreben der Figuren, in einer als verschoben wahrgenommenen Welt zu überleben und sich den Gegebenheiten der Besatzung anzupassen, einen Platz in ihrer Welt zu finden. Die Orientierung bieten dabei zwei Bücher: Die alternative Realität des Grasshopper und das I Ching, welches als esoterisches Orakel die Geschicke der Menschen in der japanischen Besatzungszone bestimmt. Beide Bücher stehen dabei in einem entscheidenden Gegensatz. Währen Abendsens Zukunftsentwurf die Menschen zu konkretem Handeln aufruft, etwa den Mordversuchen deutscher Agenten oder das Bestreben der Yogalehrerin Juliana Frink, Abendsen sein Geheimnis zu entlocken, drängt das Orakel die Menschen zu Passivität und bietet lediglich mystifizierte Erklärungsversuche für das Geschehen.

Was Abendsen beschreibt, ist ein vermeintliches Utopia, in dem sich die Siegermächte zumindest vorerst um die Welt zu kümmern scheinen und statt kaltem Krieg und globalkapitalistischer Wirtschaft soziale Reformen vorantreiben. Doch Dick, als realer Autor, zeigt schon seinen Zeitgenossen, dass die realen Siegermächte an diesem Anspruch gescheitert sind und es zu diesem Utopia nie kommen wird. Selbst im pervertierten Gegenwartsentwurf der Romanhandlung trifft Kriegsveteran Joe Cinnadella mit seiner zynischen Prognose den Nagel auf den Kopf: „They’re both [die USA und Großbritannien] plutocracies, ruled by the rich. If they had won, all they’d have thought about was making more money, that upper class. Abendsen, he’s wrong; there would be no social reform, no welfare public works plans – the Anglo-Saxon plutocrats wouldn’t have permitted it.“ (S. 157)

Was Dick ebenfalls zeigt, ist kulturelle Unterdrückung in zwei Extremen. Auf der einen Seite die archaische Gewalttätigkeit der Nazis, mit ihrer gänzlich materialistischen Ideologie von Stärke, Blut und Rassenlehre – auf der anderen Seite der japanische Mystizismus, der vordergründig feinsinnige Glaube an Orakel, Ahnen und Vorhersagen. Und doch gleichen sich beide Systeme in ihrer Perfektionierung der Unterdrückung, ihrer Etablierung von Hierarchie und Rangordnung. Exemplarisch wird das an der reichen japanischen Oberschicht, die sich mit Amerikana umgibt und die amerikanische „Geschichte“ mit dem kuriosen Interesse eines Kolonialherrn studiert. „The American Way of Life“ existiert nur noch als Inszenierung. Trotz Steak und Kartoffelecken fühlt sich der Antiquitätenhändler Robert Childan bei seinen Kunden als Fremder im eigenen Land. Deutlich wird dies auch an der Sprache der Figuren, die sich mehr und mehr dem vereinfachten Englisch der Japaner angleicht, deren Idiom übernimmt und sich so auch sprachlich unterwirft.

Bei der Lektüre des Romans verflechten sich ganz von selbst drei Ebenen der Realität. Die des Lesers, die des Romans und jene der fiktiven Erzählung Abendsens. Philip K. Dick unternimmt dabei keinerlei Wertung und beschreibt keinen der Entwürfe als überlegen oder utopisch. Vielmehr lässt sich die Welt in allen Versionen trotz ihrer teils gravierenden Unterschiede wiedererkennen. Diese Unterschiede ergeben sich durch den Einfluss von Zufall, Unwirklichkeit und die wiederkehrende Frage nach der Authentizität der Realität: zentrale Elemente bei der Überlegung, was möglich gewesen wäre oder möglich sein könnte.

Die Überlegung, Was wäre passiert, wäre der Krieg anders ausgegangen?, war bereits in den 60er-Jahren müßig. Weder die Realität noch die beiden von Dick vorgestellten Alternativen konnten den Anspruch an eine ideale Gesellschaft erfüllen. Dick verdeutlicht, dass keine Welt perfekt ist und sich der Lauf der Geschichte zu keinem Zeitpunkt mit Präzision vorhersagen lässt. Und zugleich warnt Dick mit seiner verstörend präzise beobachteten Version davor, dass es immer schlimmer kommen kann. Gerade in Zeiten der aktuell aller Orten populären Regression in reaktionären Nationalismus ist The Man in the High Castle nicht nur ein verspieltes Was wäre, wenn? – Dicks Dystopie ist vielmehr eine deutliche Mahnung davor, was möglich wäre – oder zumindest, Was uns erspart geblieben ist.

Philip K. Dick: The Man in the High Castle
London: Penguin Essentials 2014
265 Seiten, Paperback
6,99 €

Der Roman ist in deutscher Übersetzung von Norbert Stöbe bei Fischer Taschenbuch unter dem Titel Das Orakel vom Berge erhältlich.


Montagskaffee #9

Guten Morgen.

Plasma oder Papier? Die große Masse der Leser war noch nie dafür bekannt, stets einer Meinung zu sein, insofern war es nicht wirklich probematisch, dass man sich über die Frage nach klassisch analogem Buch oder digitalem E-Book-Reader wieder einmal in zwei Lager teilte. Nun allerdings zeigt sich, dass es mitnichten nur um Vorlieben oder Abneigungen gegen den digitalen Wandel geht, sondern dass auch im Gehirn unterschiedliche Prozesse ablaufen, je nachdem ob man von Papier oder Bildschirmen liest. Offenbar werden beim Lesen digitaler Inhalte andere Hirnregionen beansprucht, als durch das Lesen von Büchern. Problematisch daran ist, dass die Fähigkeit, konzentriert und tief zu lesen, abhanden kommt, wenn sie nicht regelmäßig genutzt wird. Was folgt, sind Konzentationsstörungen, weil das Hirn unbewusst die Buchseiten scannt und sich weniger an einzelnen Zeilen aufhält. Ein Punkt also für die Papier-Fraktion. So gut ist der Kindle eh nicht.

Auf io9.com rechnet Esther Inglis-Arkell mit der allzu oft romantisierten Vorstellung von Revolutionen in der Literatur ab. Das Problem vieler post- oder prä-revolutionärer Dystopien sei – neben Teenagern – dass die Revolutionen idealisiert und realitätsfern sind. In zehn Punkten zeigt sie auf, was so alles nicht stimmt, darunter die Vorstellung, es sei immer nur der böse Diktator schuld, nicht etwa vielleicht eine herrschende Elite oder Oberschicht. Auch beliebt: Uneingeschränkte Symmpathien und Unterstützung für die Helden durch Schmugglerbanden, die aber prinzipiell Teil des Systems sind und ihre Profite verlieren, wenn die Revolution obsiegt.

Apropos Groß gegen Klein und Papier gegen Plasma: Vergangene Woche hat der Online-Riese Amazon die neue Generation von Kindle und Fire-Tablet vorgestellt. Soweit, so unspektakulär.  Neu ist jedoch, dass es jetzt für den kostengünstigen Einstiegspreis von rund 150 US-Dollar eine Variante des Tablets für Kinder gibt. Schön bunt, vermeintlich unkaputtbar, und falls es doch zu Bruch geht (und das wird es, in Kinderzimmern gibt es kein „unzerstörbar“) ersetzt der Hersteller das Gerät in den ersten zwei Jahren ohne zu fragen. Höflich, nicht? Doch Amazon serviert hier eine Einstiegsdroge für die ganz Kleinen. Gedacht ist das Gerät nämlich für Kinder ab drei Jahren. Und obwohl es so daher kommt, ist es, wie Fridtjof Küchemann in der FAZ richtig bemerkt, mitnichten ein Spielzeug, sondern der Einstieg in die schöne neue Multimedia-Welt, in der Amazon den Kanon diktiert.


Mind the Gap: Dmitry Glukhovskys „Metro 2033“ und „Metro 2034“

Es scheint, als habe Stanisław Lem Recht behalten. In seiner 1983 erschienenen fiktiven Rezension Waffensysteme des 21. Jahrhunderts oder The Upside Down Evolution[1] beschreibt er nicht nur düster präzise die Entwicklung moderner Waffensysteme, sondern auch deren Einfluss auf die Geisteswelt der Menschheit. So werde die Angst vor der thermonuklearen Vernichtung die Menschen zum Entwurf immer größerer Bunkeranlagen treiben, die der finalen Logik des Totrüstens zufolge jedoch immer eine Stufe zu schwach bleiben müssen. „Jene Konzeption“, so Lem, „befruchtete nur die damalige Science-fiction mit finsteren und entsetzlichen Visionen, in denen die Reste einer entarteten Menschheit in betonierten, mehrstöckigen, tief unter der Erdoberfläche befindlichen Maulwurfslöchern unter den Ruinen der verbrannten Städte vegetierten.“[2]

Tatsächlich ist diese Vorstellung vielfach aufgegriffen worden. Postnukleare Welten, in denen sich Überlebende vor Sonnenlicht und Mutanten verstecken, finden sich in der Literatur etwa bei Walter M. Miller, Jr.‘s Lobgesang auf Leibowitz, Richard Mathesons Ich bin Legende oder Cormac McCarthys Die Straße.[3] Auch die Videospielwelt hat sich des Themas angenommen und daraus etwa die mittlerweile zu Kultstatus erhobene Fallout-Reihe geschaffen.

Bereits 2007 erschien mit Metro 2033 ein weiterer dystopischer Roman, der sich in die von Lem prophezeite Tradition einreihte. Angesiedelt im postnuklearen Moskau beschreibt der Roman von Dmitry Glukhovsky das Überleben einer größeren Menschengruppe, die sich noch während des Bombardements in die Moskauer Metro retten konnte. Hermetisch abgeriegelt konnten sie der nuklearen Zerstörung entgehen und fristen seither ihr Dasein in Dunkelheit und Angst, unter der ständigen Bedrohung von einbrechenden Wassermassen, Strahlung, Anomalien und Mutanten. 2009 folgte die Fortsetzung Metro 2034. Beide Romane sind nun bei Heyne in einer üppige 1088 Seiten umfassenden Doppelausgabe erhältlich.

Cover Dmitry Glukhovsky MetroGlukhovskys Metro 2033 ist eine Parabel auf den unbeugsamen Willen der Menschheit, in den widrigsten Umgebungen zu überleben; vor allem aber über ihre Hybris und Geschichtsvergessenheit, über ihre Unfähigkeit aus vergangenen Fehlern zu lernen und das permanente Gefühl, bedroht zu sein. Zur Bedrohung werden bei Glukhovsky das undurchdringliche Dunkel der Tunnel, die radioaktiven Strahlung der Oberfläche und die mutierten Kreaturen der postnuklearen Welt. Allgegenwärtig sind Angst, Paranoia und scheinbar gefährliche Anomalien, während der gefährlichste Feind des Menschen er selbst bleibt, in seiner alles überdauernden gegenseitigen Missgunst und Ideologie. Homo homini lupus.

Die Stationen der U-Bahn sind zu Zwergenstaaten mutiert, in denen die populären Ideologien des 20. Jahrhunderts in pervertierter Form fortexistieren. Die Bewohner der Stationen bekämpfen sich um die Vorherrschaft über ihr eigenes Gefängnis und um die Durchsetzung ihrer absurden Gottesvorstellungen. Kommunisten, Faschisten und Jehovas Zeugen, ein „Großer Wurm“ und „Unsichtbare Beobachter“ – es gibt keine Unterscheidung mehr zwischen „gut“ und „böse“, nur noch den allgegenwärtigen Zwang, die eigene Machtlosigkeit gegenüber der selbst geschaffenen nuklearen Finsternis mit wirren Ideologien zu übertünchen. weiterlesen