„Durch das offene Fenster, am nachtblauen Himmel, an dem wie ein Medaillon der Mond hängt, werde ich sie alle Revue passieren lassen, die Freuden, die Verfehlungen, die vertrauten Gesichter meines Lebens. In Zeitlupe. Ich höre sie schon heranrollen wie eine Lawine. Welche Auswahl soll ich treffen? Welche Haltung einnehmen? Ich drehe Pirouetten am Abgrund, bin ein Tänzer auf Messers Schneide, ein Vulkanforscher, dem am Rand des brodelnden Kraters die Augen übergehen; ich stehe am Tor zum Gedächtnis: jenem endlosen Stapel von Bändern mit Rohmaterial, wo wir archiviert sind […]“ (S. 405)
Ganz gleich, wie sehr sich der Mensch gegen sein Schicksal stellt, mit welch heroischer Anstrengung er den Widrigkeiten des Lebens zu trotzen versucht; so sehr scheint er den Umständen, den Launen des Lebens und Verstrickungen seines Umfelds ausgeliefert zu bleiben. Es ist daher sicher kein Zufall, dass Yasmina Khadra seinen Roman Die Schuld des Tages an die Nacht mit der lakonischen Feststellung des Protagonisten „Mein Vater war glücklich.“ im Präteritum beginnen lässt.
Als ein wohl mutwillig gelegtes Feuer den winzigen Acker von Younes‘ Familie zerstört, bekommt der in ärmlichen Verhältnissen lebende Junge erstmals die Ungerechtigkeit der Welt und des französischen Kolonialismus im Algerien der 1930er Jahre zu spüren. Wie so viele ist die Familie gezwungen, ihr Land an die Kolonialmacht zu verpfänden und sich auf den Weg in die Stadt und damit in einen Moloch aus Elend, Hunger, Arbeitslosigkeit und Gewalt zu begeben.
In der Stadt Oran wird der zähe Wille von Younes‘ Vater, sich stets aus eigener Kraft aufzurichten, vollständig gebrochen. Als letzte Aufopferung gibt der Vater Younes an seinen kinderlosen Bruder, der dem Jungen ein sicheres Leben im europäischen Teil der Stadt ermöglichen soll. Damit wird aus dem Araberjungen Younes der Apothekersohn Jonas, der es im beschaulichen Winzerstädtchen Río Salado selbst zum Apotheker und etwas Wohlstand bringt. Und doch bleibt er, der aus dem Elend Gerettete, in der neuen Welt der Unglückliche, der an seinem persönlichen Schicksal hadert, ja stellenweise ganz verzweifelt.
Younes/Jonas engagiert sich nicht wie sein Onkel in der algerischen Unabhängigkeitsbewegung und kann mit dem hitzigen Charakter seiner Zeit wenig anfangen. Aus der Politik versucht er sich herauszuhalten und bleibt doch ein Sinnbild für sein Land; bleibt der aus der zusammengebrochenen algerischen Vergangenheit stammende Junge, der es durch Glück und Fleiß in der Kolonialgesellschaft zu etwas gebracht hat und doch nie so ganz dazugehört, nie ganz seinen Platz zu finden scheint und dessen persönliche Suche nach Glück stets auf der Kippe steht.
Younes/Jonas ist von Khadra nicht als Schwächling oder Verlierertyp angelegt, sondern als empfindsamer Beobachter, der lieber sein persönliches Glück aufgibt, als seine neutrale Position zu verlassen. Es liegt ihm fern, in der sich immer weiter spaltenden Gesellschaft aktiv Stellung zu beziehen. Diese Unentschlossenheit kann als Schwäche des Romans ausgelegt werden und macht Younes/Jonas zu einem schwierigen Sympathieträger. Und doch rührt seine Unentschlossenheit nie aus völliger Gleichgültigkeit, sondern vielmehr aus einem melancholischen Hang zur Grübelei und einem Hadern an der Verständnislosigkeit der anderen.
Seine stets auf Messers Schneide changierende Suche nach einem Platz im Leben macht Younes/Jonas zur Parabel für die turbulente Umbruchzeit in Algerien, in der zwischen Elend, Gewalt, kolonialer Ausbeute und zunehmend radikalisiertem Freiheitskampf die leisen, nachdenklichen Stimmen kein Gehör mehr finden und unterzugehen drohen. Vordergründig sind Khadras Protagonist und der Roman nicht aktiv politisch. Dennoch zeigt Younes/Jonas aus einer gleichsam nüchternen wie entrückten Beobachterposition heraus exemplarisch das Scheitern der algerischen Vergangenheit und die schwierige Suche eines Landes nach einer neuen Identität.
Khadras Die Schuld des Tages an die Nacht breitet vor dem Leser 70 Jahre algerischer Geschichte von der französischen Kolonialzeit bis in die Gegenwart aus; ein nostalgisches, enthusiastisches, zuweilen aber auch pathetisch-verklärtes Panorama einer vergangenen Zeit, die jäh von Gewalt und Bürgerkrieg zerrissen wurde. Eine Psychologisierung oder gar Erklärung der Gewalt und Ungerechtigkeit sucht man in Khadras Roman vergeblich. An mancher Stelle wäre es wünschenswert, würde das Verhalten der Figuren genauer erklärt, auch um den Figuren und weltpolitischen Zusammenhängen mehr Tiefe zu geben. Doch Khadra hat mit seinem Roman trotz vordergründiger Konzentration auf Younes/Jonas und den Mikrokosmos Río Salado immer das große Ganze im Blick: Ein Panorama einer zerbrochenen Zeit und eine Liebeserklärung an ein untergegangenes Land.
Yasmina Khadra: Die Schuld des Tages an die Nacht
Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe
Berlin: List Taschenbuch 2011
416 Seiten, Taschenbuch
9,99 €