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Glücklich ist, wer vergisst: Willi Winklers „Das Braune Netz“

„Das Außen-, das Justiz- und zuletzt das Innenministerium wurden auf ihre Geschichte hin durchleuchtet, und überall fanden sich, o Wunder: Nazis. Nazis saßen im Bundestag, in den Länderparlamenten, in sämtlichen Behörden und Ministerien, in der Polizei, in der Justiz, sie saßen in der Regierung und sie saßen zu Gericht, in manchen Fällen sogar über ihre ehemaligen Opfer. Die frühe Bundesrepublik war ein einziger Skandal. Eine Partei der früheren NSDAP-Mitglieder hätte bis in die sechziger Jahre die größte Fraktion im Bundestag stellen können. Neunzig Prozent aller Berufssoldaten der neuen Bundeswehr hatten bereits in der alten Wehrmacht gedient. Der Boden, über den er geht, ist unheimlich, schreibt Golo Mann. Aber die frühe Bundesrepublik hat schnell gelernt, auf diesem Boden und auf ihrer Vergangenheit zu leben, gern auch zu tanzen.“ (S. 15f.)

1945 lag Deutschland und mit ihm Europa in Trümmern. Das „1000-jährige Reich“ war nach zwölf Jahren untergegangen und hinterließ den Überlebenden eine moralische Hypothek, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit kaum zu fassen, geschweige denn zu tragen schien. Wie am Morgen nach dem Exzess starrte eine erwachte Bevölkerung auf den Scherbenhaufen und konnte sich vermeintlich nicht erinnern, wie es dazu hatte kommen können.

Gleichzeitig musste es irgendwie weitergehen, ein neuer Staat aufgebaut und gegen den Rückfall in den Exzess verteidigt werden. Das „Dritte Reich“ war zwar besiegt, nicht aber der Nazismus. Die Überlebenden des alten Systems wurden Teil des Neuen. Während in Nürnberg die Hauptverantwortlichen öffentlichkeitswirksam verurteilt und größtenteils hingerichtet wurden, gelang es Millionen von Mittätern und Mitläufern, in das neue, nun endlich demokratische System zu wechseln. Immerhin war ihre Expertise gefragt. Nicht alle Positionen konnten mit Exilanten und Widerständlern besetzt werden.

Willi Winkler arbeitet in Das Braune Netz minutiös heraus, an welchen Stellen es ehemaligen Nazis gelang, sich in der Bundesrepublik einzurichten. Das geschah mal aus Opportunismus, mal aus Pragmatismus; mal wurden Lebensläufe geschönt, manchmal neu erfunden und zweifellos gab es viele ehemalige Nazis, die sich glaubhaft geläutert aus Überzeugung am Aufbau des neuen Staats beteiligten. Dennoch richtete die rasche Assimilation der Kriegsverbrecher einen kaum zu beziffernden moralischen Schaden an. Diesen zu verdeutlichen ist das Ziel von Winklers Arbeit.

„Hätte [Hanns Martin] Schleyer neben [Reinhard] Heydrich im Auto gesessen und wäre mit ihm gestorben, wäre der Mord an ihm jedenfalls später eine politisch und moralisch zu rechtfertigende Tat gewesen. SS-Untersturmführer Schleyer saß nicht neben ihm, er kannte Heydrich vermutlich nicht näher, aber er wohnte in Prag in einer von Juden requirierten Villa, konnte rechtzeitig vor dem Eintreffen der sowjetischen Truppen fliehen, kam mit drei Jahren Internierung davon (im Lebenslauf höflich umschrieben als Kriegsgefangenschaft), stieg bei Daimler-Benz in den Vorstand auf und wurde der Arbeitgeberpräsident, der mit Bundeskanzler Helmut Schmidt ebenso gut verhandeln konnte wie mit dem ehemaligen Kommunisten Willi Bleicher, dem Stuttgarter IG-Metall-Chef, der das „Dritte Reich“ zum größten Teil im KZ Buchenwald verbracht hatte.“ (S. 23f.)

Winklers Buch ist eine Fleißarbeit, die unermüdlich Nazi-Vergangenheiten auflistet. Kleine Mitläufer und handfeste Mittäter, die sich als erstaunlich moralisch flexibel erwiesen und mal mehr, mal weniger auskömmliche Posten in der neuen Bundesrepublik besetzten. Weich gefallen sind sie fast alle; geschützt von Amnestie und allgemeinem Verdrängungsimpuls war ihre Nazi-Vergangenheit kaum je ein Einstellungshindernis. Die Karrieren vor dem Krieg sind dabei so vielfältig wie die in der Bundesrepublik: Hans Globke (Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze und Hauptverantwortlicher für die Namensänderungsverordnung, später Chef des Bundeskanzleramts und rechte Hand Adenauers), Reinhard Gehlen (Generalmajor der Wehrmacht, Gründer der „Organisation Gehlen“, die später mit ihm als Chef zum BND wurde), Hermann Höcherl (NSDAP seit 1931, Leutnant der Wehrmacht, Innenminister 1961-65), Theodor Saevecke (SS-Hauptsturmführer, NSDAP seit 1929, BKA seit 1952, Einsatzleiter während der Besetzung der Spiegel-Redaktion 1962) und viele andere mehr.

„‚Ich bin gezwungen worden, ‚Jud Süß‘ zu drehen‘, trotzte dagegen der arme Verfolgte. ‚Warum soll ich mich jetzt dafür entschuldigen?‘ Veit Harlaan hatte wirklich schwer zu tragen, erst an seinem Ruhm im ‚Dritten Reich‘ und danach wieder an seinem Ruhm im ‚Dritten Reich‘. Der Gutachter Herbert Kraus empfahl, ‚den Mantel des Vergessens über das Dunkel der hinter uns liegenden Zeit zu bereiten‘. Worüber beklagten sich die Juden eigentlich? Der Vorsitzende Richter Walter Tyrolf verfiel in der Urteilsbegründung auf das irrsinnigste aller Argumente: ‚Hätten die Juden nicht schon damals, 1940/41, ins Kino gehen und Strafantrag wegen Beleidigung stellen können?‘ Doch, genau so heißt es in der Begründung des Landgerichts Hamburg, Schwurgericht II, Urteil vom 29. April 1950.“ (S. 236)

Das Braune Netz ist gefüllt mit solchen Beispielen. Sie provozieren ein kaum zu greifendes Unverständnis für die groteske historische Ungerechtigkeit, die in einer ebenso historischen Perversion einen der freiesten, erfolgreichsten und international geachtetsten Staaten Europas hervorbrachte. Tyrolf (NSDAP seit 1937), der als Staatsanwalt an Todesurteilen wegen „Rassenschande“ mitwirkte, wehrte sich übrigens gegen ein Ende der 50er gegen ihn laufendes Ermittlungsverfahren mit der Begründung, er sei „der Letzte, welchem man den Vorwurf machen könnte, dabei sich ‚die Hände mit Blut befleckt‘ zu haben“ (S. 237). Das Verfahren wurde eingestellt.

Winkler neigt zur spitzen, nicht immer ganz wertungsfreien Formulierung. Er ist ein scharfer Beobachter, der Sachverhalte vorlegt und erschütternde Details aus den Biographien sprechen lässt, die von den Personen selbst aus ersichtlichen Gründen häufig lieber verschwiegen worden waren. Winkler blickt unnachgiebig auf ein sumpfiges Milieu, das gute Arbeit geleistet hat, wenig beachtet zu werden. Das liest sich fesselnder als mancher Kriminalroman, wirkt zuweilen aber etwas atemlos, wenn Winkler von Anekdote zu Anekdote springt, als würde die Kaskade der moralischen Ungeheuerlichkeiten gar nicht mehr versiegen.

Sie ist in der Tat lang, die Liste dieser Ungeheuerlichkeiten. Spiegel-Affäre und Wiederbewaffnung, Amnestie und Freisprüche für Kriegsverbrecher, der öffentliche Umgang mit NS-Opfern und nicht zuletzt der fast fanatische Antikommunismus der frühen Bundesrepublik waren letztlich kaum ohne die Beteiligung der „Alten Kämpfer“ denkbar. Die junge Bundesrepublik suchte nach dem Kitt, um den neuen Staat zusammenzuhalten und griff nach der bewährten Methode des Zusammenschlusses durch Ausgrenzung.

Über die paranoide Verfolgung des Kommunismus und dessen Dämonisierung zum absoluten Staatsfeind – von Winkler präzise als Hauptargument herausgearbeitet – gelang es nicht nur, die Bundesrepublik als treuen Verbündeten der Westmächte zu etablieren und die alten Kader (wegen ihrer wiederum unentbehrlichen Erfahrung) zu rehabilitieren, sondern auch – sozusagen als bitterer Treppenwitz – eine makabere Traditionslinie der Identität über Negativabgrenzung herzustellen: vom NS-Antisemitismus über den Antikommunismus bis zum heutigen Rechtspopulismus. Ob etwa die über Jahrzehnte hartnäckig als Sündenbock genutzte „Rote Kapelle“ in der Bundesrepublik überhaupt existierte, geschweige denn eine Gefahr darstellte, spielte damals ebenso wenig eine Rolle, wie der Wahrheitsgehalt heutiger Propaganda gegen Zuwanderer.

Winklers Arbeit mag angesichts der suggerierten Alternativlosigkeit der zeitgeschichtlichen Abläufe zu Verdrossenheit und Entsetzen verleiten – und doch steht über ihr ein großes „Trotzdem“. Der damals so fragile Rechtsstaat ist nicht zusammengebrochen; das Reaktionäre hat sich nicht durchsetzen können. Trotz der moralischen Hypothek entstand aus den Trümmern des „Dritten Reichs“ die heutige Bundesrepublik Deutschland. Es ist Winklers Verdienst, diesen Widerspruch schonungslos aufzuzeigen und zugleich einen Erklärungsversuch anzubieten. Neben den von Winkler aufgefahrenen Beispielen des Opportunismus und Verdrängens kommen die zivilgesellschaftlichen Veränderungen, die letztlich zur Überwindung des „braunen Netzes“ geführt haben, allerdings etwas zu kurz. Das Braune Netz ist dennoch ein Beitrag zum Verständnis der Überlebenslügen der frühen Bundesrepublik – und ein ebenso wichtiges Puzzleteil zum Verständnis der Gegenwart.

Willi Winkler: Das Braune Netz. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde
Berlin: Rowohlt 2019
416 Seiten, gebunden
22,00 €