Bevor wir zur Sache selbst kommen, eine Erkenntnis: Einen Nordseekrimi in eine Ferienwohnung an der Nordsee mitzunehmen, ist praktisch Eulen nach Athen tragen für Anfänger. Interessanterweise fand ich in unserem wirklich reizenden Domizil einen weiteren Storm-Krimi vor, was mir nicht nur verlängerte Lesefreude bescherte, sondern auch die Erkenntnis, dass ich mir mit dem Nordseeschwur Band drei einer Reihe organisiert und als Urlaubslektüre vorgenommen hatte.
Nun, glücklicherweise war mit dem Nordseegrab Band eins vorrätig, also konnte ich von vorne beginnen. Leider fehlt jetzt das Interim Der Nordseespuk, für das Verständnis von Band drei hatte das lobenswerterweise aber keine negativen Auswirkungen. Also, zur Sache.
„Der arme Lüdersen wird ermordet, praktisch vor meinen Augen, und vom Mörder fehlt jede Spur. Auf dem Pfingstmarkt wird ein Lichtbild mit acht Porträts ehrenwerter Bürger gezeigt, und der Besitzer der Bude schwört Stein und Bein, dass er es noch nie gesehen hat und nicht weiß, wie es in seinen Schaukasten kommt. Mein Klient ist immer noch in Haft und lügt mich an oder schweigt beleidigt. Und mein Schreiber wird am helllichten Tag grün und blau geprügelt – pardon, ich meine, er ist bös gestürzt. Immerhin singt Husums Jugend in meinem Chor, eher eifrig als talentiert, aber was will man machen. Und in acht Wochen treten wir zum ersten Mal auf, Söt. Ich wünschte, es wären acht Monate.“ (Das Nordseegrab, S. 113f.)
Husum im Jahr 1843. Der junge Anwalt Theodor Storm bekommt von seinem Vater, dem ehrenwerten Advokat und Koogschreiber Johann Casimir Storm, einen persönlichen Schreiber engagiert, damit Junior in seiner eigenen Kanzlei – selbstredend auf eigene Kosten – erst einmal eigene Erfahrungen sammeln möge, bevor er in die väterliche Kanzlei einsteigen und gegebenenfalls dereinst die väterliche Nachfolge antreten könne.
Bereits wenig später wird auf dem stormschen Dachboden ein Bottich mit Blut und einer Leiche gefunden, die sich als Wachspuppe von Storm Senior herausstellt. Eine Warnung? Immerhin hat der Täter, einem Menetekel gleich, eine in Blut geschriebene Liste mit Namen Husumer Kaufleute hinterlassen. Als einer der Herren wenig später bei einer Landpartie im Wald erschlagen wird, werden Storm und sein Schreiber Peter Söt aufmerksam und finden erste Spuren einer finsteren Verschwörung, in die ein ganzes Dorf verwickelt zu sein scheint.
Storms Schreiber Söt ist es, durch dessen Augen der Leser die Geschichte erlebt. Er ist zugleich Erzählinstanz und eigentlicher Protagonist des Romans. Insbesondere im ersten Band ist es Söts eigene zwielichtig-mysteriöse Vergangenheit, die einen nicht unwichtigen Part zur Handlung beizutragen scheint. Spielt Söt gar ein doppeltes Spiel mit Storm? Söts ungleich berühmterer Arbeitgeber gerät dabei eher zwischen die Fronten, als wirklich Handlungsträger zu sein. Storm ist weder klassischer Ermittler noch Detektiv aus Eigenantrieb, auch wenn seine Kanzlei scheinbar ganz ohne Zutun zum Dreh- und Angelpunkt der Kriminalgeschichte wird. Der Inhaber arbeitet viel engagierter daran, das kulturelle Leben des verschlafenen Husums zu beleben, schreibt an eigenen Gedichten und einer Sagensammlung der Region (ist aber heimlich frustriert, weil seine Freunde erfolgreicher publizieren) und übt den Anwaltsberuf eigentlich nur seines Vaters wegen aus, der wollte, dass der Sohnemann „etwas ordentliches“ studiert. Man kennt das. Lebte Storm im Jahr 2017, er würde ziemlich sicher twittern.
Während der Fall im Nordseegrab sehr persönlich ist, wird es im Nordseeschwur politisch. Ein Jahr nach der Handlung von Band eins beteiligt sich Storm daran, ein Volksfest in einem der umliegenden Dörfer zu organisieren, wo rasch auch politische Reden und Lieder angestimmt werden. Revolutionsgeruch scheint sich unter die Seeluft zu mischen. Noch vor Beginn des Festes wird ein mysteriöser Besucher Storms brutal ermordet und auch auf dem Festgelände ereignen sich bald brutale Übergriffe. Stehen die Ermordeten in Verbindung? Was haben Metternichs Geheimpolizei und der glücklose Revolutionär Harro Harring damit zu tun? Bewahrheiten sich gar die anonymen Warnungen vor einem „Blutbad“ beim Volksfest der Friesen?
Söt und Storm ergänzen sich gut, auch wenn Storm trotz der sich in der Kleinstadt ansammelnden Todesfälle vordergründig etwas unbeteiligt scheint. Söt hingegen durchblickt das Ausmaß des Falls etwas schneller, scheint aber seinerseits dunkle Gestalten anzuziehen und ist oft widerwillig mittendrin, statt nur dabei. Das wirkt stellenweise etwas konstruiert, ohne aber direkt unglaubwürdig zu sein. Immerhin ist Husum klein und das düstere Netzwerk, aus dem sich Söt erst nach und nach zu befreien beginnt, offenbar allgegenwärtig. Von dieser Vergangenheit sagt sich Söt zum Ende des ersten Bandes allerdings los, ohne aber in der Folge von „mörderischen“ Zwischenfällen verschont zu bleiben. Nach all den Verwicklungen und Todesfällen sollte sich Söt nach Band drei zumindest einmal fragen, ob er nicht das Unheil irgendwie anzuziehen scheint.
Insgesamt sind beide Romane unterhaltsam und launig erzählt, auch wenn die Motivationen der Figuren an manchen Stellen etwas im Unklaren bleiben. Gerade Storm hätte – obwohl er die Titelfigur ist – etwas mehr Aufmerksamkeit durchaus verdient. Historisch sind die Romane präzise, stimmig und aufwändig recherchiert; der studierte Germanist, Historiker und FAZ-Redakteur Spreckelsen lässt hier nichts anbrennen. Sprachlich und handwerklich sind seine Storm-Krimis absolut wasserdicht. Tilman Spreckelsen gelingt ein lebendiges, atmosphärisch dicht gezeichnetes „Was-wäre-wenn“-Bild über den jungen, noch unbekannten Theodor Storm, das sich nicht zuletzt durch sein ungewöhnliches und kauziges Protagonistenduo und die gerade richtige Prise Schimmelreiter-Mystik positiv von gängigen Regionalkrimi-Topoi abhebt.
Tilman Spreckelsen: Das Nordseegrab
Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 2015
272 Seiten, Taschenbuch
9,99€
Tilman Spreckelsen: Der Nordseeschwur
Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 2017
240 Seiten, Taschenbuch
9,99€