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Büchertour #0 – Ausstellungsbesuch

Ein regnerischer Tag wie heute ist eigentlich der ideale Zeitpunkt, sich mit Büchern zu beschäftigen. Nicht ganz so ideal ist dann, dass das gewählte Ziel für den Tag eine Ausstellung am anderen Ende der Stadt ist. Was soll’s – jetzt erst recht.

Nachdem der Himmel das Gröbste seines Tagesgeschäfts offenbar hinter sich gebracht hatte, machte ich mich also auf den Weg zur Mainzer wissenschaftlichen Stadtbibliothek, in der noch bis zum 2. September die Ausstellung „Seitenweise Kunst. Eine Liebeserklärung an das Buch und das Lesen“ gezeigt wird.

Die Front der wiss. Stadtbibliothek Mainz, Baujahr 1912.

Die Bibliothek befindet sich, im Gegensatz zum Großteil der Stadt – etwa auch die Öffentliche Bücherei „Anna Seghers“ – noch in der originalen Bausubstanz und liegt malerisch an Rheinufer und vierspuriger Hauptverkehrsader. Architektonisch ist das Gebäude sicher keine übermäßige Perle, aber in einer von Nachkriegschic und Brachialbeton dominierten Innenstadt glänzen auch die Zweckbauten des frühen 20. Jahrhunderts.

Nun sollte der Spaziergang, auf dem bewusst und zur Zeitersparnis mindestens drei Buchhandlungen umgangen wurden, aber nicht der Architektur, sondern vielmehr der Literatur gewidmet sein. Davon gibt es in der Stadtbibliothek mehr als genug. Rund 550.000 Bände umfasst der heutige Buchbestand exklusive neuerer Medienformen, was die Institution zu einer der größten wissenschaftlichen Bibliotheken Deutschlands in kommunaler Hand macht. Da man immerhin auf eine Tradition seit 1477 zurückblicken kann, umfasst die Sammlung auch viele prächtige Handschriften des Mittelalters und etwa 100.000 Drucke des 16. bis 18. Jahrhunderts aus den Beständen der alten Universitätsbibliothek. Besondere Schmuckstücke zeigt das Mainzer Gutenberg-Museum als Dauerleihgabe.

Doch zurück zur Ausstellung, die – so ist es der Ankündigung zu entnehmen – die der Institution eigenen Themen wie „Lesen“ und „Bücher“ mit zeitgenössischer bildender Kunst verbinden will. Mehr als 70 Buchobjekte, Künstlerbücher, Zeichnungen, Malerei, Grafiken, Fotografien und Skulpturen werden gezeigt, die aus der Hand und Feder von 26 Künstlerinnen und Künstlern sowie den Stipendiatinnen und Stipendiaten des Künstlerhauses Schloss Balmoral stammen.

Tja. Auch schön hier.

Tja. Nun. Also mal angenommen, man hätte sich vernünftig vorbereitet, einen Plan gemacht und den Termin für den Besuch nicht noch einmal spontan verschoben, käme jetzt hier wohl der Teil mit der Ausstellungskritik und Eindrücken.

Ohne den Konjunktiv kommt jetzt allerdings nur eine relevante Service-Information: Die wissenschaftliche Stadtbibliothek Mainz ist donnerstags geschlossen.


Ein Visionär der europäischen Idee – René Schickele

Einen „zweisprachigen Grenzlandvogel“ nannte er sich selbst, steter Wanderer zwischen Deutschland und dem Elsass, geboren in Oberehnheim, gelebt unter anderem in Strasbourg, Berlin, Badenweiler; bewundert und verachtet von beiden Ländern – das Grenzlandschicksal ist René Schickeles Biographie immanent. In Deutschland galt er als Franzose, in Frankreich als Deutscher. Er schrieb auf Deutsch und fühlte sich doch nicht als Deutscher, sondern als Grenzgänger und Kosmopolit. Mit seiner Idee einer grenzüberschreitenden Heimat wirkte Schickele mit am Fundament einer europäischen Idee, die sich heute in der Europäischen Union zu verwirklichen beginnt.

Im Mitteldeutschen Verlag erschien nun vor kurzem ein eleganter kleiner Sammelband unter dem Titel Das Wort hat einen neuen Sinn[1], herausgegeben von Christian Luckscheiter und Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Darin finden sich Essays, Briefe und Gedichte des elsässischen Schriftstellers, die Schickeles Europaidee aufgreifen und um seinen Begriff der Heimat kreisen. Aus diesem Spektrum erschließt sich die Bedeutung der Neuauflage Schickelscher Texte zu einem Zeitpunkt, da in der Europäischen Union radikal-konservative Kräfte an Einfluss gewinnen und sich dezidiert europakritische Stimmen mehren.

 

„Hier bin ich geboren, hier bin ich zuhause. Heimat, das ist für uns eine so köstliche, so lebendige Tatsache, daß wir darüber die unvermeidlichen Irrwege vergessen.“ (Erlebnis der Landschaft, 96)

 

1883 wurde René Schickele in Oberehnheim, Elsass, als Sohn eines deutschen Vaters und einer französischen Mutter geboren. Schon seine Familienkonstellation scheint sein deutsch-französisches Grenzgängerschicksal zu determinieren. Obwohl er zuhause nur Französisch sprach, wurde Schickele schnell Klassenbester im Deutschunterricht. Er immatrikulierte sich naturwissenschaftlich, gab bereits zu Studentenzeiten eine eigene Zeitschrift und Gedichte heraus, pilgerte umher zwischen Paris, Berlin, Strasbourg und München und ging letztlich auf Weltreise. In Berlin beteiligte er sich an einem Verlagshaus, ging Bankrott und kehrte als Redakteur nach Strasbourg zurück. Es erschienen Romane, Gedichte und Erzählungen. Immer produktiv, immer mehr als Schriftsteller tätig kehrte Schickele nach Berlin zurück und gab dort die Weißen Blätter heraus. Während des Krieges lebte er in der Schweiz, von dort aus fand er in Badenweiler seine ideale Heimstätte, nur um auch von dort wieder vertrieben zu werden (Autobiographische Notizen, 7ff). Er, der stete Vermittler und Pazifist starb 1940, gebrochen und resigniert durch den deutschen Faschismus und den erneuten Krieg zwischen seinen beiden Heimatländern. Erst viele Jahre später konnte sein Wunsch erfüllt und sein Grab nach Badenweiler verlegt werden. Den Fall Frankreichs an Nazideutschland musste er nicht mehr erleben. weiterlesen