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Catering an Audience: John Greens „Turtles all the Way Down“

„By cell count, humans are approximately 50 percent microbial, meaning that about half of the cells that make you up are not yours at all. There are something like a thousand times more microbes living in my particular biome than there are humans on earth, and it often feels like I can feel them living and breeding and dying in and on me. I wiped my sweaty palms on my jeans and tried to control my breathing. Admittedly, I have some anxiety problems, but I would argue it isn’t irrational to be concerned about the fact that you are a skin-encased bacterial colony.“ (S. 3, Herv. im Orig.)

Ich habe John Green vor einigen Jahren als einen dieser nerdigen Brüder kennengelernt, die sich auf YouTube lustige Videos schicken. John war der, der sich gelegentlich mit Filzstiften bemalte, später einen kleinen Sohn bekam und wohl noch immernoch geradezu existenzielle Höhenangst hat.

Später habe ich dann herausgefunden, dass er nicht nur klug über Literatur spricht, sondern auch selbst Bücher schreibt. Green hatte gerade seinen jüngsten Roman The Fault in our Stars fertiggestellt, der dann wohl auch recht gut ankam. Gut, das ist dann etwas hochgkocht und mittlerweile kann er auf Lesereise wohl Stadien füllen, aber in meiner kleinen Welt ist er immernoch einer dieser Brüder von YouTube.

John Green -

Mit Turtles all the Way Down erschien dann im vergangenen Jahr sein jüngster Roman, der ebenfalls auf dem besten Wege ist, zum Kultbuch zu werden.

Aza, Teenager kurz vor Ende der Highschool, Halbwaise und geplagt von einer psychischen Störung, die ihr einzureden versucht, sie könne sich an jeder Ecke mit dem gefährlichen Balterium Clostridium difficile infizieren und letztlich an einem simplen Kuss sterben, ist dieses Mal die Hauptfigur der Geschichte. Es geht um ihr Verhältnis zu Davis Pickett, einem Freund aus Kindertagen, dessen steinreicher (und latent krimineller) Vater verschwunden ist. Am Verschwinden von P. Sen. ist eine kleine Krimihandlung angeknüpft, die aber schnell versickert und insgesamt nebensächlich bleibt. Im Vordergrund stehen die verwirrenden Emotionen von Teenagern, die innere Zerrissenheit von Aza, ihr Umgang mit und Scheitern an der psychischen Erkrankung sowie die Frage, ob man einen Einfluss darauf hat, wer man ist oder ob nicht die Verhältnisse, Zufälle (oder ein millardenstarkes bakterielles Mikrobiom) das eigene Denken, Handeln und Schicksal bestimmen.

Stilistisch bleibt John Green auf bekannt hohem Niveau. Seine Figuren sind glaubhaft, lebensnah und schlagfertig, die Dialoge überzeugen ebenso wie Azas Innensicht und die Schilderung ihrer Krankheit. Auch der für Green typische, leicht schwarz-fatalistische Humor kommt nicht zu kurz.

Insgesamt bleibt die Handlung aber leider zurückhaltend und vorhersehbar, im Grunde gibt es eigentlich kaum etwas, das wirklich passiert. Auch emotionale Achterbahnfahrten wie in den Stars oder im Erstling Looking for Alaska gibt es dieses Mal nicht. Insgesamt bleibt Turtles daher zu zahm, zu sehr an der Darstellung des Musterbilds vom „anxious Teenager“ verhaftet. Selbstredend sind psychichische Erkrankungen nicht nur ein Topos und in jedem individuellen Fall ernstzunehmen. Aza als literatische Figur hingegen wirkt mir ein bisschen zu sehr, als hätte Green nur seine Kernzielgruppe bedient. Für Nicht-mehr-Teenager hätte es ruhig etwas mehr sein dürfen.


Technobabble: Lothar Weises „Unternehmen Marsgibberellin“

„Graue Schneewolken hielten den ganzen Tag die Dämmerung des Morgens fest. Ein naßkalter Wind wehte ein Gemisch von Schnee und Regen auf die Betonbahn, die sich mit einer gefährlichen Eisschicht überzog. Der Elektro-Eilbus Schwerin–Rostock hatte die Außenbezirke Schwerins verlassen. Verschneite Rosengebüsche zu beiden Seiten der Schnellstraße wandelten sich in ein gleichmäßiges weißes Band. Mit dreihundert Kilometer Stundengeschwindigkeit jagte das Fahrzeug, vom Luftpolster getragen, dahin. Schnittige Eissegler auf dem Schweriner See, spielzeughaft kleine Häuser entfernter Agrarstädte, bepuderte Wälder und schneebedeckte Felder glitten wie die Bilder eines Films am Fenster vorbei.“ (S. 23)

Roland Blüthner, Veteran der dritten Marsexpedition, scheint ein gebrochener Mann. Ein folgenschwerer Unfall auf dem Mars kostete ihn fast das Leben, der Kontakt zu einer gefährlichen Anomalie auf dem roten Planeten und dort wachsenden Pflanzen ließ ihn in kürzester Zeit altern und zehrte seinen Körper aus. Der unbekannte Stoff, den Blüthner von den Marspflanzen mitbrachte, erwies sich als wirkungsvolles Rauschgift, das den Wissenschaftler in eine lethargische Abhängigkeit zwingt. Erst als Blüthner von einem längeren Kuraufenthalt zurückkehrt, entdeckt er die wahre Bedeutung des Stoffes: Unter bestimmten Voraussetzungen erzeugt er bei Pflanzen Riesenwuchs – eine phänomenale Chance für die Landwirtschaft, um die Erträge drastisch zu erhöhen.

Lothar Weises phantastischer Roman Unternehmen Marsgibberellin schildert die angestrengten Versuche der Forscherkollektive in Deutschland und Russland, das Geheimnis des neuen Wuchsstoffes zu entschlüsseln. Hydroponikkulturen, Feldversuche, chemische Analysen – Die Forscher lassen nichts unversucht, können aber lange keine schlüssigen Ergebnisse erzielen. Insbesondere die stoische, fast konservative Systematik des Institutsleiters bringt keine nennenswerten Ergebnisse. Erst von Blüthner „illegal“ durchgeführte Feldversuche sorgen für erneuten Riesenwuchs, ohne jedoch das Geheimnis des Marsgibberellins preiszugeben. Da die Vorräte zur Neige gehen, soll Nachschub beschafft und das Wachstum der Marspflanzen direkt untersucht werden, weshalb es im letzten Drittel des Romans noch eine weitere Marsexpedition gibt.

Für einen Science Fiction Roman, der den Mars im Titel und eine Expedition dahin zum Thema hat, kommt Weises Roman erstaunlich lange ohne Raumfahrt aus. Der überwiegende Teil der Handlung spielt sich in der Forschungsstation Warin und auf den umliegenden Feldern ab. Dabei ist erkennbar, dass sich Lothar Weise die Klassifizierung seines Textes als „wissenschaftlich-phantastischer Roman“ sehr zu Herzen genommen hat. Während man sehr ausführlich die Überlegenheit der fast vollständig automatisierten Technologie vorexerziert bekommt, vertiefen sich die Figuren immer wieder in wissenschaftliche Fachsimpelei. Dabei sind die Unterhaltungen absolut interdisziplinär, ohne dass erst größere Wissenslücken geschlossen werden müssen. Das in der DDR seit 1959 propagierte Bildungsideal der polytechnischen Ausbildung scheint in Weises Vision also aufzugehen. Die Tiefgründigkeit der Unterhaltungen scheint indes zu belegen, dass Weise seine Hausaufgaben gemacht und den Stoff gründlich recherchiert hat. Hat der Leser aber kein Diplom in Biochemie, sind viele der Ausführungen und Exkurse in Chemie, Physik, Pflanzenkunde und Agrarwissenschaft aber nur umständliches Technobabble und wirken reichlich angestrengt, so als wolle der Autor seinen Lesern neben guter Unterhaltung gleich noch eine Weiterbildung in Biochemie präsentieren.

Dabei erscheint die präsentierte Welt durchaus überzeugend. Fast alles ist elektrifiziert und wird von hocheffizienten, sauberen und sicheren Atomkraftwerken betrieben, die kaum annähernd an der Auslastungsgrenze arbeiten. Der Mensch hat die Jahreszeiten überwunden und kann dank modernster Agrartechnik fast das gesamte Jahr hindurch schnell wachsende Pflanzen anbauen oder im Winter ganze Äcker beheizen. Wissenschaft und Fortschritt werden absolut positivistisch betrachtet; die Technologie hat keinerlei Nebenwirkungen. Darüber hinaus ist der Fortschritt in seinem Lauf nicht aufzuhalten, auch wenn dafür Teile der Natur unwiederbringlich zerstört werden müssen. Weises Schilderungen sind futuristisch, aber nicht völlig unrealistisch. Natürlich ist Marsgibberellin eine Form von Unobtainium, ansonsten kommt die Technologie aber ohne größere Logikzugeständnisse aus. Vollautomatische und autonome Erntemaschinen sind heute keine Zukunftsmusik mehr, lediglich die Atomenergie hat ihren Heiligenschimmer eingebüßt. Etwas kurios ist die Darstellung aus heutiger Sicht allerdings schon: Während Video-Telefone in Weises Zukunft ganz selbstverständliches Kommunikationsmittel sind, scheint ihm das Konzept, Text elektronisch anders als über Morsefunk zu übermitteln, völlig fremd.

Wie viele Vertreter seiner Zeit, der Roman stammt aus dem Jahr 1964, kommt auch Unternehmen Marsgibberellin ohne nennenswerten Ost-West-Konflikt aus. Der „damals noch bestehende kapitalistische westdeutsche Separatstaat“ (S. 23) findet nur eine einzige Erwähnung, danach wird ein weltübergreifendes gesamtkommunistisches System suggeriert. Drei Jahre nach dem Mauerbau war der kapitalistische Agent, wie er etwa noch in Horst Müllers Signale vom Mond als Antagonist auftrat, nicht länger notwendig. Zukunftspositivistisch bis in die letzte Faser beschreibt Lothar Weise eine Welt, in der nur noch die Natur, die Elemente und deren Überwindung Gegenspieler der geeinten Menschheit sind. Auch wenn der Roman in seinen Darstellungen der hocheffizienten sozialistischen Landwirtschaft Anklänge an die Produktionsliteratur der DDR hat, kommt Weise ohne den klassischen Wettkampf der Systeme aus. Dass das gezeigte Weltbild überlegen ist, ist als Fakt gesetzt.

Seine Höhepunkte hat der Roman, wenn er sich und die Welt – absichtlich oder nicht – selbstironisch kommentiert, wie im Bericht eines Technikers über einen von ihm gelesenen „Tatsachenbericht“. Diese seien ja „doch meist erfunden“, winkt der Zuhörer ab. Für Schwierigkeiten brauche es keinen Roman, die habe man bei der Erforschung des Marsgibberellins zur Genüge. An anderer Stelle wird dann ganz beiläufig Jesus zum Alien. Eine ganz charmante Art, Religion in einer komplett unreligiösen Welt zu thematisieren:

„Deshalb ist es denkbar, daß unser interstellarer Gast nicht allzu verwundert ist, auf der Erde vernunftbegabte Wesen vorzufinden. Vielleicht hat er im Photonenraumschiff bereits riesige Räume durchmessen. Auf dem Planeten fand er Bewohner, die bei seinem Erscheinen in die Knie sanken und ihn als Gesandten ihrer Gottheit empfingen und verehrten. Seine ihnen unbegreiflichen technischen Hilfsmittel: kaltes Licht zu erzeugen, auf Schwerkraftbrücken über Meere zu laufen, die ihnen unverständlichen Bilder und Töne seines Heimatplaneten empfangen, riesige Fluten zurückzudrängen; seine Fähigkeit, nach modernsten medizinischen Gesichtspunkten schwere, bisher tödliche Krankheiten fast schlagartig zu heilen, ja sogar Tote zu erwecken […] bleiben in den Erzählungen und Überlieferungen dieser Wesen über tausend Jahre lebendig, werden zu einer Art Religion. Der intestellare Gast aber ‚fährt erneut zum Himmel‘, gelangt vielleicht zu anderen Planeten […]“ (S. 194f.)

Von diesen Passagen abgesehen aber bleibt Unternehmen Marsgibberellin eher dröge. Spannung erzeugt der Kampf gegen die Elemente, für einen Abenteuerroman nimmt die Marsexpedition aber zu wenig Raum ein. Die Figuren bleiben außerhalb ihrer ihnen zugedachten Rolle (Pilot, Ärztin, Biologe, Skeptiker, väterliche Führungsfigur, romantischer Sidekick) eher flach und ohne Entwicklung. Weise erschöpft sich zu oft in ausführlichem Fachchinesisch, was den Roman für eine jüngere oder nicht naturwissenschaftlich vorgebildete Leserschaft schwer lesbar und stellenweise sehr langweilig macht. Zumindest kommt der Roman trotz gelegentlicher Schulmeisterei ohne das heute schwer erträgliche Hohelied auf die Überlegenheit des Sozialismus aus. Angesichts der aktuellen Begeisterung für unseren roten planetaren Nachbarn sind Weises Vorstellungen zur Beschaffenheit des Mars aber ganz amüsant zu lesen.

Lothar Weise: Unternehmen Marsgibberellin
Mit Illustrationen von Eberhard Binder
Berlin: Verlag Neues Leben 1964 (=Spannend Erzählt 56)
272 Seiten, gebunden
vergriffen


Weltraumschrott: Horst Müllers „Signale vom Mond“

Kürztlich kam mir der kleine „Zukunftsroman“ Signale vom Mond von Horst Müller aus dem Jahr 1960 in die Hände. Angesichts meines Faibles für frühe Science Fiction, insbesonder aus dem Ostblock, versprach das etwas abgegriffene Büchlein kurzweilige Unterhaltung an den Weihnachtstagen. Nun, zumindest die Illustrationen von Heinz Völkel sind einigermaßen launig.

Wir befinden uns in der nahen Zukunft, etwa 20 Jahre nach Ende des Krieges. Die Welt ist geteilt, wenngleich die „Überreste“ des Kapitalismus im Sterben liegen und mit dem Glanz der kommunistischen Staatengemeinschaft nicht mithalten können. Das Rennen um das Weltall hat Amerika verloren. Um die Erde kreist die hochmoderne Raumstation „Kosmos 1“, von deren Startrampe in wenigen Tagen eine bemannte wissenschaftliche Expedition zum Mond aufbrechen soll. Dennoch schießen die Amerikaner quer und können eine eigene Rakete „Phönix“ noch vor der Ost-Mission auf den Mond absetzen. Zwischendurch kam es zu einem Zwischenfall: Der wagemutige und renommierte Journalist Niels Jensen gerät bei einem Außeneinsatz um Kosmos 1 in einen Asteoridenschauer und wird abgetrieben. Merkwürdige Wesen retten ihn und setzen ihn vor dem gelandeten amerikanischen Raumschiff ab. Es kommt zu Verwicklungen und Intrigen, letztlich siegt die kommunistische Gesellschaft und bricht zwei Jahre später zu einer glanzvollen Mission zum Jupitermond Ganymed auf, der als Heimstatt der Außerirdischen identifiziert ist.

Signale vom Mond ist eine Weltraum-Abenteuergeschichte, die – würde man den Roman von seiner politischen Agenda befreien und sprachlich über das Niveau eines Schulaufsatzes heben – vielleicht unterhalten könnte. So aber ist die Geschichte um den heroischen Reporter ziemlich belanglos, da sie letzlich nur als Vehikel dient, die technologische, moralische und ideelle Überlegenheit des Ostens über den Westen zu demonstrieren.

Müllers Agenda ist dabei nicht einmal besonders elaboriert: Der Osten steht für die kollektive Menschheit (eine Weiterentwicklung von Ulbrichts „sozialistischer Menschengemeinschaft“), Gemeinschaft, Optimierung und eine helle Zukunft; während im Westen Kapital, Machtsucht, Eigennutz und Korruption herrschen. „Noch immer mächtige Finanzgruppen“ (S. 72) halten die Fäden einer scheinbar völlig machtlosen Regierung in der Hand, einzelne Charaktere sind nur auf den eigenen Vorteil bedacht, korrupt und suchtgesteuert. Im Prinzip ist jeder käuflich, finstere Ziele aller Art bis zur Erklärung offener Kampfhandlungen lassen sich ganz einfach mit der nötigen Menge Dollars erreichen. Wenig überraschend, in seiner Plumpheit aber doch bemerkenswert, ist die aggressive Ablehnung von Religiösität, aus der heraus Müller ausgerechnet tibetanische Mönche zu terroristischen Handlangern der Amerikaner macht.

Die Darstellung der Konfliktparteien ist ziemlich eindeutig.

Der Ostblock hingegen ist technologisch einwandfrei, überlegen und moralisch integer. Die kommunistische Weltgemeinschaft arbeitet zum Wohle aller uneigennützig zusammen und meistert den technologischen Fortschritt. Mit der Vorstellung von Aerotaxis und Bildtelefonen reiht sich Müller in damals gängige SciFi-Vorstellungen ein, ebenso wie mit dem scheinbar grenzenlosen Vertrauen in die Atomkraft, deren unendliche, saubere und sichere Energie alle Versorgungsprobleme gelöst hat. Aus heutiger Sicht ebenso interessant ist das absolute Vertrauen in die fast vollständige Automatisierung von Steuerungsprozessen und Berechnungen. Kurios: Nachrichten werden trotz aller Automation und Funk-Bild-Technik weiterhin per Rohrpost zugestellt.

Obwohl erst 1960 erschienen setzt Signale vom Mond mit seiner Schulbuch-Didaktik und dem sehr monochromen Weltbild die Ideale und den Geist der frühen DDR-Aufbauliteratur der 50er fort. Diese idealisierte eine sich schnell entwickelnde sozialistische Gesellschaft und machte sich die „ständige Entfaltung des realkommunistischen Wesens der neuen Gesellschaft“ (offizielle DDR-Darstellung) zum Thema. Man wollte mit der Literatur nicht nur einen Beitrag zum Aufbau der „sozialistischen Nation“ leisten, sondern gleichzeitig eine „sozialistische Nationalliteratur“ erschaffen, die fürderhin als „sozialistische Klassik“ Modellcharakter für die Literatur eines wiedervereinigten Gesamtdeutschlands unter kommunistischer Führung dienen sollte. Mit dem Alltag der Menschen – oder anspruchsvoller Literatur – hatte das jedoch überwiegend nichts zu tun.

Signale vom Mond versetzt den Aufbauroman aus der sozialistischen Produktion in eine nahe Zukunft, in der alle Menschen der Erde – zumindest des geläuterten und „besseren“, weil kommunistischen, Teils – gemeinsam Neues zu Gunsten der Menschheit schaffen. Auch die Erforschung des Alls ist ein kollektives Projekt. Gleichzeitig krankt der Roman am gleichen Problem wie die frühen Produktionserzählungen: Den Aufbau unternehmen Mitglieder der Intelligenz, das eigentlich herrschende Proletariat findet im Roman keine Erwähnung und dient allenfalls als Handlanger und Nebenfigur.

Ähnlich ergeht es übrigens den Frauen, denen in der kommunistischen Weltgemeinschaft zwar durchaus Erfolg in der Wissenschaft und Forschung zugetraut wird, ohne sie jedoch aus dem Fräuleinschema herauszuheben oder ihnen gar Führungspositionen einzugestehen. Einfluss auf die Handlung haben die beiden (!) Frauenfiguren keinen, sie dienen lediglich der „Liebesgeschichte“, deren Skript „Reporter macht sich über Wissenschaftlerin lustig, diese erkennt nach seinem Verschwinden ihren (!) Fehler und verliebt sich in Abwesenheit“ an Unerträglichkeit kaum zu überbieten ist.

Letztlich entspricht der Roman genau der Kritik von Eduard Claudius, der seinerzeit nach einer von ihm eingeläuteten Welle von Aufbauromanen den Anspruch der politischen Führung und Verleger kritisierte: Manche glaubten, so Claudius, „der Schriftsteller sei einem Computer ähnlich, in den man die Programmierungskarte hineinstecken könne, und blitzschnell, ehe man sich’s versieht, komme der fertige, nach Wunsch geschneiderte Roman heraus: ein Teil positiver Held in strahlend heller Sonne, zur notwendigen Kontrastierung ein wenig gewölkt, ein Teilchen wohldosierter Liebe, wie sie halt üblich ist, natürlich ein Gegenspieler, dieser aber schwach, schlecht und zuletzt unterliegend.“[1]

Horst Müller: Signale vom Mond
Bautzen: Domowina Verlag 1960.
202 Seiten, gebunden
vergriffen

[1]  (Zitiert nach: Emerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Berlin: Aufbau Taschenbuch 2005, S.139f.)


Algerische Erinnerungen: Yasmina Khadras „Die Schuld des Tages an die Nacht“

„Durch das offene Fenster, am nachtblauen Himmel, an dem wie ein Medaillon der Mond hängt, werde ich sie alle Revue passieren lassen, die Freuden, die Verfehlungen, die vertrauten Gesichter meines Lebens. In Zeitlupe. Ich höre sie schon heranrollen wie eine Lawine. Welche Auswahl soll ich treffen? Welche Haltung einnehmen? Ich drehe Pirouetten am Abgrund, bin ein Tänzer auf Messers Schneide, ein Vulkanforscher, dem am Rand des brodelnden Kraters die Augen übergehen; ich stehe am Tor zum Gedächtnis: jenem endlosen Stapel von Bändern mit Rohmaterial, wo wir archiviert sind […]“ (S. 405)

Ganz gleich, wie sehr sich der Mensch gegen sein Schicksal stellt, mit welch heroischer Anstrengung er den Widrigkeiten des Lebens zu trotzen versucht; so sehr scheint er den Umständen, den Launen des Lebens und Verstrickungen seines Umfelds ausgeliefert zu bleiben. Es ist daher sicher kein Zufall, dass Yasmina Khadra seinen Roman Die Schuld des Tages an die Nacht mit der lakonischen Feststellung des Protagonisten „Mein Vater war glücklich.“ im Präteritum beginnen lässt.

Als ein wohl mutwillig gelegtes Feuer den winzigen Acker von Younes‘ Familie zerstört, bekommt der in ärmlichen Verhältnissen lebende Junge erstmals die Ungerechtigkeit der Welt und des französischen Kolonialismus im Algerien der 1930er Jahre zu spüren. Wie so viele ist die Familie gezwungen, ihr Land an die Kolonialmacht zu verpfänden und sich auf den Weg in die Stadt und damit in einen Moloch aus Elend, Hunger, Arbeitslosigkeit und Gewalt zu begeben.

In der Stadt Oran wird der zähe Wille von Younes‘ Vater, sich stets aus eigener Kraft aufzurichten, vollständig gebrochen. Als letzte Aufopferung gibt der Vater Younes an seinen kinderlosen Bruder, der dem Jungen ein sicheres Leben im europäischen Teil der Stadt ermöglichen soll. Damit wird aus dem Araberjungen Younes der Apothekersohn Jonas, der es im beschaulichen Winzerstädtchen Río Salado selbst zum Apotheker und etwas Wohlstand bringt. Und doch bleibt er, der aus dem Elend Gerettete, in der neuen Welt der Unglückliche, der an seinem persönlichen Schicksal hadert, ja stellenweise ganz verzweifelt.

Younes/Jonas engagiert sich nicht wie sein Onkel in der algerischen Unabhängigkeitsbewegung und kann mit dem hitzigen Charakter seiner Zeit wenig anfangen. Aus der Politik versucht er sich herauszuhalten und bleibt doch ein Sinnbild für sein Land; bleibt der aus der zusammengebrochenen algerischen Vergangenheit stammende Junge, der es durch Glück und Fleiß in der Kolonialgesellschaft zu etwas gebracht hat und doch nie so ganz dazugehört, nie ganz seinen Platz zu finden scheint und dessen persönliche Suche nach Glück stets auf der Kippe steht.

Younes/Jonas ist von Khadra nicht als Schwächling oder Verlierertyp angelegt, sondern als empfindsamer Beobachter, der lieber sein persönliches Glück aufgibt, als seine neutrale Position zu verlassen. Es liegt ihm fern, in der sich immer weiter spaltenden Gesellschaft aktiv Stellung zu beziehen. Diese Unentschlossenheit kann als Schwäche des Romans ausgelegt werden und macht Younes/Jonas zu einem schwierigen Sympathieträger. Und doch rührt seine Unentschlossenheit nie aus völliger Gleichgültigkeit, sondern vielmehr aus einem melancholischen Hang zur Grübelei und einem Hadern an der Verständnislosigkeit der anderen.

Seine stets auf Messers Schneide changierende Suche nach einem Platz im Leben macht Younes/Jonas zur Parabel für die turbulente Umbruchzeit in Algerien, in der zwischen Elend, Gewalt, kolonialer Ausbeute und zunehmend radikalisiertem Freiheitskampf die leisen, nachdenklichen Stimmen kein Gehör mehr finden und unterzugehen drohen. Vordergründig sind Khadras Protagonist und der Roman nicht aktiv politisch. Dennoch zeigt Younes/Jonas aus einer gleichsam nüchternen wie entrückten Beobachterposition heraus exemplarisch das Scheitern der algerischen Vergangenheit und die schwierige Suche eines Landes nach einer neuen Identität.

Khadras Die Schuld des Tages an die Nacht breitet vor dem Leser 70 Jahre algerischer Geschichte von der französischen Kolonialzeit bis in die Gegenwart aus; ein nostalgisches, enthusiastisches, zuweilen aber auch pathetisch-verklärtes Panorama einer vergangenen Zeit, die jäh von Gewalt und Bürgerkrieg zerrissen wurde. Eine Psychologisierung oder gar Erklärung der Gewalt und Ungerechtigkeit sucht man in Khadras Roman vergeblich. An mancher Stelle wäre es wünschenswert, würde das Verhalten der Figuren genauer erklärt, auch um den Figuren und weltpolitischen Zusammenhängen mehr Tiefe zu geben. Doch Khadra hat mit seinem Roman trotz vordergründiger Konzentration auf Younes/Jonas und den Mikrokosmos Río Salado immer das große Ganze im Blick: Ein Panorama einer zerbrochenen Zeit und eine Liebeserklärung an ein untergegangenes Land.

Yasmina Khadra: Die Schuld des Tages an die Nacht
Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe
Berlin: List Taschenbuch 2011
416 Seiten, Taschenbuch
9,99 €


Zwischen Dorfidyll und Mondkratern: Arno Schmidts „KAFF auch Mare Crisium“

Was hasdu heut Nachmittag eigntlich mit dem ‚helleborosen Farrago‘ gemeent?“ ; Hertha ; tiefsinnich. : „Einen ‚nieswurzwürdijen Mischmasch‘.“ – Aber ihr einzijer Dank beschtant in 1 wüstn Blick. Dann fiel ihr was ein : „Also ‚eine echte Bereicherunk im Sinne der tria corda des Ennius‘“, leierte sie haßvoll=auswenndich. Und TH ließ die Augn behaaklich zwischen uns hin & her gehen. „Was’n Tühnkram, nich?“ sagte sie liebevoll : „Deswegen ischa auch nix aus ihm gewordn : weil er den Kopf immer zu voll von seuchn Zeuch hadde. – Aber man wird’a guder Laune von, Mädchen.“ setzte sie mahnend hinzu : „Ich finnd‘ : wenn Einer mehr als bloß seine ‚Tausn Worde Deutsch‘ kann – man bleibt, auch als Frau=da – “ ( sie fingerte nach dem betreffenden Ausdruck ) : „ – Beweeklicher, nich. Oder?“ (S. 116)

Ein Kaff in Niedersachsen, 1960. Hertha und Karl, Angestellte aus der Stadt, besuchen in ihrer (Schlesierin, als junges Mädchen geflohen) Isetta seine (Kriegsveteran, vergeistigter Antimilitarist) Tante Heete (TH). Dorfidyll mit schmutzigen Kühen, Bauernleben und Dorftheater. Es riecht nach Kohleofen und Sülze mit Bratkartoffeln. The simple life. Parallel dazu, in seiner (Phantast, Worte=Schmied) Erzählung an sie (traum-a-tisiert, verunsichert), eine post-nukleare Kolonie der Amerikaner auf dem Mond. Science Fiction in Badehosen (wegen der Temperatur, Grünhauseffekt), die Farce eines Parlaments mit Kriegz=Minister (stehendes Herr: 2 Mann) und glühendem Patriotismus, dafür ohne Klopapier und praktisch ohne langfristigen Plan. Auf der dunklen Seite eine Kolonie der Russen. Pragmatischer, ohne Pathos und deutlich überlebensfähiger, weil man das Problem der Überalterung und das der Unterversorgung mit Proteinen in einem Zug gelöst hat.

Arno Schmidt: KAFFAuf Erden dann ein Angebot, Geistes- und Landleben zusammenzulegen. Den Eskapismus als maximale Kritik an Wirtschaftswunder und Wiederaufrüstung zu zelebrieren und – ganz uneigennützig von TH – das Erbteil vor der tumben Verwandtschaft zu retten.

Die eigentliche Handlung bleibt im Grunde belanglos und in ihrer Belanglosigkeit der Szenerie angemessen. Was KAFF auszeichnet, ist Arno Schmidts Spiel mit der Sprache. Sein gänzlicher Verzicht auf und Bruch mit orthographischen Konventionen. Schmidt entwickelt im KAFF seine lautmalerische Sprache, verknüpft mehrere Erzählebenen und zugleich ländlichen Realismus mit futuristischer Science Fiction. Damit verweist KAFF bereits auf Schmidts Spätwerk und Opus Magnum Zettels Traum, jedoch ohne dessen enorme und stellenweise unzugängliche Komplexität.

Schmidts Sprache und Stil sind bewusste und radikale Brüche mit der Konvention der Literatur der Bundesrepublik in den 60ern. Über seine anfangs gewöhnungsbedürftige, trotz ihrer scheinbaren Willkürlichkeit aber schnell eingängigen Otto=gra=vieh vermittelt Schmidt seine deutliche Kritik am Einfach-Weiter der BRD. Als sprachlicher Rebell stellt er sich gegen das Gewohnte und protestiert auf allen Ebenen gegen die unterlassene Aufarbeitung der Nazizeit, die deutsche Teilung, Wiederaufrüstung und verpasstes Wirtschaftswunder, Besatzung und den Kalten Krieg. Sprache ist ihm Mittel der Wahl, doch wird die Kritik auch in den Unterhaltungen der Figuren deutlich und letztlich in der Farce eines postnuklearen kalten Krieges auf dem Mond ironisch auf die Spitze getrieben. Mein persönlicher Favorit ist der hohle Heroismus in der verfremdeten Version des Nibelungenlieds des amerikanischen Nazional-Dichters auf dem Mond. Der beschworene Nibelungenwille zum patriotischen Durchhalten kann, nicht einmal 20 Jahre nach Stalingrad, nur zynisch-bitter schmecken.[1]

Im Grunde ist es daher schade, dass Schmidts Duktus heute in dieser Form nicht mehr funktionieren würde. Spuren davon mögen sich in 1 von der facebookisierten ich-schreibe-wie-meine-finger-halt-die-tasten-treffen-Mentalität geprägten Jugendsprache finden, seine kritische, subversive Kraft hat der bewusste (und damit sowohl absichtliche als auch gezielt-gedankenvolle) Bruch jeglicher orthographischer Regeln aber längst verloren.[2] Heute jedoch wird das Spiel zum Meme, zur bloßen popkulturellen Hülse, die man ein paar Wochen herumkrakeelt, bevor selbst der Bayerische Rundfunk auf den Zug aufspringt und sich die Influencer auf Twitter einen neuen Gag ausdenken müssen, um im immerwährenden Sozialmediengekreisch aufzufallen. Arno Schmidt hätte es vermutlich trotzdem amüsiert. Vong intelleggd her.

Arno Schmidt: KAFF auch Mare Crisium
Frankfurt: S. Fischer 1980
368 Seiten, Taschenbuch
9,95 €

[1] Einen tiefer gehenden Zugang bietet das Projekt mare crisium. das in Kooperation mit der Arno Schmidt Stiftung Bargfeld Materialien zum Text, Erläuterungen und Hintergründe sammelt. Eine Fundgrube, die den Zettelkästen des Autors angemessen ist!

[2] Übrigens nutzte bereits im Jahrhundert zuvor Oskar Panizza phonetische Orthographie zur Obrigkeitskritik. Dass ihn Schmidt kannte, darf getrost angenommen werden, auch wenn Panizzas Texte erst in den 60ern langsam wieder rezipiert wurden.


„The madmen are in Power.“ Philip K. Dicks: „The Man in the High Castle“

„Perhaps if you know you are insane then you are not insane. Or you are becoming sane, finally. Waking up. I suppose only a few are aware of all this. Isolated persons here and there. But the broad masses … what do they think?“ (S. 44f.)

Was wäre, wenn …? Eine Frage, die in der Evolution existenzieller menschheitsgeschichtlicher Fragen wohl unmittelbar nach Quo vadis? und dem ganz grundsätzlichen Warum? entstanden ist.  Was wäre also, wenn der Krieg anders verlaufen wäre?

Die Welt des Jahres 1962 ist aufgeteilt zwischen den Siegermächten. Nach dem Sieg der Achsenmächte über die Alliierten ist die Welt gespalten in die vom Deutschen Reich besetzten Gebiete und das Großreich Japan. Eine demilitarisierte, neutrale Zone trennt das frühere Gebiet der USA in die von Deutschland besetzten Gebiete an der Ostküste und die Pazifischen Staaten von Amerika an der Westküste. Beide Mächte regieren mit eiserner Faust, die amerikanische Kultur ist praktisch vollständig unterdrückt und überlebt lediglich in der neutralen Pufferzone und als romantisiertes Sammelobjekt der japanischen Besatzer.

dick_castleInmitten des amerikanischen Besatzungsalltags kursiert ein begehrter Roman. Im Westen frei erhältlich, im Osten als illegale Bückware, schildert The Grasshopper Lies Heavy eine alternative, schockierende und fesselnde Zukunft, in der die Alliierten den Krieg gewonnen haben und die USA zur Weltmacht aufgestiegen sind. Zurückgezogen von der Welt hütet dessen Autor Hawthorne Abendsen das Geheimnis seiner Inspiration für den Roman und schützt sich in seinem angeblich festungsgleichen Domizil, dem „High Castle“, vor den Mordversuchen des deutschen Sicherheitsdienstes.

„It is not hubris, not pride; it is inflation of the ego to its ultimate – confusion between him who worships and that which is worshipped. Man has not eaten God; God has eaten man.“ (S. 46)

Im Gegensatz zur gleichnamigen Amazon-Serie unternimmt Dick im Roman nicht den Versuch, eine spannende Agentengeschichte zu erzählen. Vielmehr ist das zentrale Motiv das ständige Bestreben der Figuren, in einer als verschoben wahrgenommenen Welt zu überleben und sich den Gegebenheiten der Besatzung anzupassen, einen Platz in ihrer Welt zu finden. Die Orientierung bieten dabei zwei Bücher: Die alternative Realität des Grasshopper und das I Ching, welches als esoterisches Orakel die Geschicke der Menschen in der japanischen Besatzungszone bestimmt. Beide Bücher stehen dabei in einem entscheidenden Gegensatz. Währen Abendsens Zukunftsentwurf die Menschen zu konkretem Handeln aufruft, etwa den Mordversuchen deutscher Agenten oder das Bestreben der Yogalehrerin Juliana Frink, Abendsen sein Geheimnis zu entlocken, drängt das Orakel die Menschen zu Passivität und bietet lediglich mystifizierte Erklärungsversuche für das Geschehen.

Was Abendsen beschreibt, ist ein vermeintliches Utopia, in dem sich die Siegermächte zumindest vorerst um die Welt zu kümmern scheinen und statt kaltem Krieg und globalkapitalistischer Wirtschaft soziale Reformen vorantreiben. Doch Dick, als realer Autor, zeigt schon seinen Zeitgenossen, dass die realen Siegermächte an diesem Anspruch gescheitert sind und es zu diesem Utopia nie kommen wird. Selbst im pervertierten Gegenwartsentwurf der Romanhandlung trifft Kriegsveteran Joe Cinnadella mit seiner zynischen Prognose den Nagel auf den Kopf: „They’re both [die USA und Großbritannien] plutocracies, ruled by the rich. If they had won, all they’d have thought about was making more money, that upper class. Abendsen, he’s wrong; there would be no social reform, no welfare public works plans – the Anglo-Saxon plutocrats wouldn’t have permitted it.“ (S. 157)

Was Dick ebenfalls zeigt, ist kulturelle Unterdrückung in zwei Extremen. Auf der einen Seite die archaische Gewalttätigkeit der Nazis, mit ihrer gänzlich materialistischen Ideologie von Stärke, Blut und Rassenlehre – auf der anderen Seite der japanische Mystizismus, der vordergründig feinsinnige Glaube an Orakel, Ahnen und Vorhersagen. Und doch gleichen sich beide Systeme in ihrer Perfektionierung der Unterdrückung, ihrer Etablierung von Hierarchie und Rangordnung. Exemplarisch wird das an der reichen japanischen Oberschicht, die sich mit Amerikana umgibt und die amerikanische „Geschichte“ mit dem kuriosen Interesse eines Kolonialherrn studiert. „The American Way of Life“ existiert nur noch als Inszenierung. Trotz Steak und Kartoffelecken fühlt sich der Antiquitätenhändler Robert Childan bei seinen Kunden als Fremder im eigenen Land. Deutlich wird dies auch an der Sprache der Figuren, die sich mehr und mehr dem vereinfachten Englisch der Japaner angleicht, deren Idiom übernimmt und sich so auch sprachlich unterwirft.

Bei der Lektüre des Romans verflechten sich ganz von selbst drei Ebenen der Realität. Die des Lesers, die des Romans und jene der fiktiven Erzählung Abendsens. Philip K. Dick unternimmt dabei keinerlei Wertung und beschreibt keinen der Entwürfe als überlegen oder utopisch. Vielmehr lässt sich die Welt in allen Versionen trotz ihrer teils gravierenden Unterschiede wiedererkennen. Diese Unterschiede ergeben sich durch den Einfluss von Zufall, Unwirklichkeit und die wiederkehrende Frage nach der Authentizität der Realität: zentrale Elemente bei der Überlegung, was möglich gewesen wäre oder möglich sein könnte.

Die Überlegung, Was wäre passiert, wäre der Krieg anders ausgegangen?, war bereits in den 60er-Jahren müßig. Weder die Realität noch die beiden von Dick vorgestellten Alternativen konnten den Anspruch an eine ideale Gesellschaft erfüllen. Dick verdeutlicht, dass keine Welt perfekt ist und sich der Lauf der Geschichte zu keinem Zeitpunkt mit Präzision vorhersagen lässt. Und zugleich warnt Dick mit seiner verstörend präzise beobachteten Version davor, dass es immer schlimmer kommen kann. Gerade in Zeiten der aktuell aller Orten populären Regression in reaktionären Nationalismus ist The Man in the High Castle nicht nur ein verspieltes Was wäre, wenn? – Dicks Dystopie ist vielmehr eine deutliche Mahnung davor, was möglich wäre – oder zumindest, Was uns erspart geblieben ist.

Philip K. Dick: The Man in the High Castle
London: Penguin Essentials 2014
265 Seiten, Paperback
6,99 €

Der Roman ist in deutscher Übersetzung von Norbert Stöbe bei Fischer Taschenbuch unter dem Titel Das Orakel vom Berge erhältlich.


War. War never changes: Joe Haldemans „Der ewige Krieg“

Der Krieg in der fernen Zukunft führt die Menschheit in die Tiefen des Alls. Vereint unter dem Banner einer universellen Verteidigungsstreitkraft reisen die Soldaten, ausgewählt aus der geistigen Elite des Planeten Erde zu fernen Planeten, um einen rätselhaften Feind zu bekämpfen. Während für die Männer und Frauen in der Truppe Wochen und Monate im Kampf verstreichen, vergehen nach den Gesetzen der Relativität auf der Erde Jahrhunderte. Jede Reise mit annähernder Lichtgeschwindigkeit wird so zur Zeitreise in eine Zukunft, die für die Soldaten zunehmend befremdlicher und unverständlicher wird.

Cover Joe Haldeman - Der ewige KriegWährend sich ihre Welt wenig ändert, wälzt sich die Vorstellung von Moral und Ethik auf der Erde vollständig um. Den Heimkehrern wird es zunehmend unmöglich, sich wieder in eine Gesellschaft zu integrieren, für die der Krieg jegliche Bedeutung verloren hat. Durch die Zeitdilatation sind ihre gerade errungenen Siege bereits Geschichte und bedeutungslos geworden, ihr Sold trotz enormer Zinsen von Inflation und Reformen der Ökonomie entwertet. Und da die Relativität auch für den Gegner gilt, wissen die Soldaten nie, ob ihnen der Feind bei der nächsten Rotation technologisch weit voraus oder hoffnungslos unterlegen sein wird. weiterlesen


Mind the Gap: Dmitry Glukhovskys „Metro 2033“ und „Metro 2034“

Es scheint, als habe Stanisław Lem Recht behalten. In seiner 1983 erschienenen fiktiven Rezension Waffensysteme des 21. Jahrhunderts oder The Upside Down Evolution[1] beschreibt er nicht nur düster präzise die Entwicklung moderner Waffensysteme, sondern auch deren Einfluss auf die Geisteswelt der Menschheit. So werde die Angst vor der thermonuklearen Vernichtung die Menschen zum Entwurf immer größerer Bunkeranlagen treiben, die der finalen Logik des Totrüstens zufolge jedoch immer eine Stufe zu schwach bleiben müssen. „Jene Konzeption“, so Lem, „befruchtete nur die damalige Science-fiction mit finsteren und entsetzlichen Visionen, in denen die Reste einer entarteten Menschheit in betonierten, mehrstöckigen, tief unter der Erdoberfläche befindlichen Maulwurfslöchern unter den Ruinen der verbrannten Städte vegetierten.“[2]

Tatsächlich ist diese Vorstellung vielfach aufgegriffen worden. Postnukleare Welten, in denen sich Überlebende vor Sonnenlicht und Mutanten verstecken, finden sich in der Literatur etwa bei Walter M. Miller, Jr.‘s Lobgesang auf Leibowitz, Richard Mathesons Ich bin Legende oder Cormac McCarthys Die Straße.[3] Auch die Videospielwelt hat sich des Themas angenommen und daraus etwa die mittlerweile zu Kultstatus erhobene Fallout-Reihe geschaffen.

Bereits 2007 erschien mit Metro 2033 ein weiterer dystopischer Roman, der sich in die von Lem prophezeite Tradition einreihte. Angesiedelt im postnuklearen Moskau beschreibt der Roman von Dmitry Glukhovsky das Überleben einer größeren Menschengruppe, die sich noch während des Bombardements in die Moskauer Metro retten konnte. Hermetisch abgeriegelt konnten sie der nuklearen Zerstörung entgehen und fristen seither ihr Dasein in Dunkelheit und Angst, unter der ständigen Bedrohung von einbrechenden Wassermassen, Strahlung, Anomalien und Mutanten. 2009 folgte die Fortsetzung Metro 2034. Beide Romane sind nun bei Heyne in einer üppige 1088 Seiten umfassenden Doppelausgabe erhältlich.

Cover Dmitry Glukhovsky MetroGlukhovskys Metro 2033 ist eine Parabel auf den unbeugsamen Willen der Menschheit, in den widrigsten Umgebungen zu überleben; vor allem aber über ihre Hybris und Geschichtsvergessenheit, über ihre Unfähigkeit aus vergangenen Fehlern zu lernen und das permanente Gefühl, bedroht zu sein. Zur Bedrohung werden bei Glukhovsky das undurchdringliche Dunkel der Tunnel, die radioaktiven Strahlung der Oberfläche und die mutierten Kreaturen der postnuklearen Welt. Allgegenwärtig sind Angst, Paranoia und scheinbar gefährliche Anomalien, während der gefährlichste Feind des Menschen er selbst bleibt, in seiner alles überdauernden gegenseitigen Missgunst und Ideologie. Homo homini lupus.

Die Stationen der U-Bahn sind zu Zwergenstaaten mutiert, in denen die populären Ideologien des 20. Jahrhunderts in pervertierter Form fortexistieren. Die Bewohner der Stationen bekämpfen sich um die Vorherrschaft über ihr eigenes Gefängnis und um die Durchsetzung ihrer absurden Gottesvorstellungen. Kommunisten, Faschisten und Jehovas Zeugen, ein „Großer Wurm“ und „Unsichtbare Beobachter“ – es gibt keine Unterscheidung mehr zwischen „gut“ und „böse“, nur noch den allgegenwärtigen Zwang, die eigene Machtlosigkeit gegenüber der selbst geschaffenen nuklearen Finsternis mit wirren Ideologien zu übertünchen. weiterlesen


Fakt – Fatum – Fälschung: Daniel Kehlmanns „F“

Ein glutheißer Sommertag und die Schicksale dreier Brüder bilden den Rahmen zu Daniel Kehlmanns F. Eric ist Investmentbanker: paranoid, skrupellos und überreizt, er ist abhängig von Beruhigungsmitteln und betrügt Kunden und Ehefrau. Sein Zwillingsbruder Iwan verwaltet und verkauft einen Nachlass, den es eigentlich nicht gibt, und Martin letztendlich ist übergewichtiger Priester, der nicht an Gott glaubt und sich auf die reine Kraft des Rituals und der Liturgie beruft. Alle drei sind auf ihre Art Heuchler, Hochstapler und Betrüger, die sich mit ihrer persönlichen Lebenslüge arrangiert haben und den Status quo des Scheins aufrecht erhalten müssen, damit um sie herum nicht alles in Scherben fällt.

Cover Daniel Kehlmann - FDas Kernthema des Romans wird schon im Prolog deutlich: Während einer Hypnosevorstellung erfahren Vater Arthur und seine Söhne die suggestive Kraft des Hypnotiseurs, der wie sein Mann’sches Vorbild Cipolla die Zuschauer nach Belieben manipuliert und trotz gegenteiliger Beteuerung vorführt. Vater wie Söhne wehren sich vergeblich; Iwan versichert sich im inneren Monolog, dass er die Befehle nur ausführe, um den Effekt der Show nicht zu zerstören und Arthur führt ein langes Streitgespräch, nur um direkt nach der Aufführung wie vorhergesagt Frau und Kinder zu verlassen. weiterlesen