Mind the Gap: Dmitry Glukhovskys „Metro 2033“ und „Metro 2034“

Es scheint, als habe Stanisław Lem Recht behalten. In seiner 1983 erschienenen fiktiven Rezension Waffensysteme des 21. Jahrhunderts oder The Upside Down Evolution[1] beschreibt er nicht nur düster präzise die Entwicklung moderner Waffensysteme, sondern auch deren Einfluss auf die Geisteswelt der Menschheit. So werde die Angst vor der thermonuklearen Vernichtung die Menschen zum Entwurf immer größerer Bunkeranlagen treiben, die der finalen Logik des Totrüstens zufolge jedoch immer eine Stufe zu schwach bleiben müssen. „Jene Konzeption“, so Lem, „befruchtete nur die damalige Science-fiction mit finsteren und entsetzlichen Visionen, in denen die Reste einer entarteten Menschheit in betonierten, mehrstöckigen, tief unter der Erdoberfläche befindlichen Maulwurfslöchern unter den Ruinen der verbrannten Städte vegetierten.“[2]

Tatsächlich ist diese Vorstellung vielfach aufgegriffen worden. Postnukleare Welten, in denen sich Überlebende vor Sonnenlicht und Mutanten verstecken, finden sich in der Literatur etwa bei Walter M. Miller, Jr.‘s Lobgesang auf Leibowitz, Richard Mathesons Ich bin Legende oder Cormac McCarthys Die Straße.[3] Auch die Videospielwelt hat sich des Themas angenommen und daraus etwa die mittlerweile zu Kultstatus erhobene Fallout-Reihe geschaffen.

Bereits 2007 erschien mit Metro 2033 ein weiterer dystopischer Roman, der sich in die von Lem prophezeite Tradition einreihte. Angesiedelt im postnuklearen Moskau beschreibt der Roman von Dmitry Glukhovsky das Überleben einer größeren Menschengruppe, die sich noch während des Bombardements in die Moskauer Metro retten konnte. Hermetisch abgeriegelt konnten sie der nuklearen Zerstörung entgehen und fristen seither ihr Dasein in Dunkelheit und Angst, unter der ständigen Bedrohung von einbrechenden Wassermassen, Strahlung, Anomalien und Mutanten. 2009 folgte die Fortsetzung Metro 2034. Beide Romane sind nun bei Heyne in einer üppige 1088 Seiten umfassenden Doppelausgabe erhältlich.

Cover Dmitry Glukhovsky MetroGlukhovskys Metro 2033 ist eine Parabel auf den unbeugsamen Willen der Menschheit, in den widrigsten Umgebungen zu überleben; vor allem aber über ihre Hybris und Geschichtsvergessenheit, über ihre Unfähigkeit aus vergangenen Fehlern zu lernen und das permanente Gefühl, bedroht zu sein. Zur Bedrohung werden bei Glukhovsky das undurchdringliche Dunkel der Tunnel, die radioaktiven Strahlung der Oberfläche und die mutierten Kreaturen der postnuklearen Welt. Allgegenwärtig sind Angst, Paranoia und scheinbar gefährliche Anomalien, während der gefährlichste Feind des Menschen er selbst bleibt, in seiner alles überdauernden gegenseitigen Missgunst und Ideologie. Homo homini lupus.

Die Stationen der U-Bahn sind zu Zwergenstaaten mutiert, in denen die populären Ideologien des 20. Jahrhunderts in pervertierter Form fortexistieren. Die Bewohner der Stationen bekämpfen sich um die Vorherrschaft über ihr eigenes Gefängnis und um die Durchsetzung ihrer absurden Gottesvorstellungen. Kommunisten, Faschisten und Jehovas Zeugen, ein „Großer Wurm“ und „Unsichtbare Beobachter“ – es gibt keine Unterscheidung mehr zwischen „gut“ und „böse“, nur noch den allgegenwärtigen Zwang, die eigene Machtlosigkeit gegenüber der selbst geschaffenen nuklearen Finsternis mit wirren Ideologien zu übertünchen.

Die grundsätzlichen Bausteine, derer sich Glukhovsky für seine Dystopie bedient, sind dabei nicht neu. Die Röhren der Metro und ihre in festen Gruppen organisierten Bewohner erinnern an die Vaults der Fallout-Reihe. Zwischen den einfachen Bewohnern, Verbrechern und Händlern wandeln auch in Metro die Stalker, die zur Elite der Kampftruppen gehören, aber in ihrer Organisation unabhängig sind. Sie sind die Einzigen, die schwer bewaffnet die Oberfläche nach Verwertbarem absuchen und so den Mythos des Abenteurers und Schatzsuchers in die postnukleare Zukunft retten. Auch hier ist die Anlehnung an die gleichnamige Videospielreihe S.T.A.L.K.E.R. zu erkennen, die wiederum auf den gleichnamigen Filmklassiker von Andrei Tarkowski und den Roman Picknick am Wegesrand von Arkadi und Boris Strugazki zurückgeht.

Es sind diese Anspielungen und Querverweise auf die Kultur des späten 20. Jahrhunderts, die Glukhovskys Welt so lebendig und greifbar machen. Um den Gang der Protagonisten durch die finsteren Tunnel nachvollziehen zu können, reicht der Griff zu einem aktuellen Moskauer Metroplan und auch die von Heyne in einem reichen Glossar erklärten Begrifflichkeiten des postsowjetischen Russlands sind heute durchaus noch geläufig. Ähnlich wie The Walking Dead schafft es auch Metro, gerade durch die Authentizität der Handlungsorte eine umso beklemmendere Stimmung zu schaffen.

Die bedrückende Atmosphäre ist es auch, die über gelegentliche narrative Schwächen der Romane hinwegtröstet. Im ersten Teil wirken die Dialoge oft hölzern und unmotiviert, während im zweiten Teil ab und an ein Handlungssprung so stark ist, dass er fast zum Plotloch gerät. Sprachlich wirkt der zweite – auch vom Umfang her kürzere – Teil geschliffener, präziser, während viele Stellen im ersten Teil etwas zu ausführlich geraten. Damit jedoch befindet sich Glukhovsky in der russischen Epik durchaus in guter Gesellschaft. Eine Besonderheit ist die Offenheit der Metro-Welt und Glukhovskys Schreibprozess. Beide Romane waren schon vor ihrer Veröffentlichung in Teilen im Netz zu lesen, sodass die Leser in ihren Kommentaren Einfluss auf den Fortgang der Handlung nehmen konnten. Diesen partizipativen Grundgedanken hat man beibehalten und er wurde von der Fangemeinde begeistert aufgenommen. Mittlerweile sind 25 weitere Romane von verschiedensten Autoren im Metro-Universum erschienen, welche die Berichte der Überlebenden über Moskau hinaus bis England, Italien und die Ukraine tragen. In ähnlicher Tradition wie bei Stalker erschienen bisher die Videospiele Metro 2033 und Metro: Last Light, eine Verfilmung ist offenbar in Vorbereitung und auch Glukhovsky hat bereits eine weitere Romanfortsetzung angekündigt.

Dmitry Glukhovsky: Metro 2033 und Metro 2034
Aus dem Russischen von David Drevs
München: Wilhelm Heyne Verlag 2014
1088 Seiten, Taschenbuch.
9,99 €

[1] Lem, Stanisłav: Waffensysteme des 21. Jahrhunderts oder The Upside Down Evolution (Die verkehrte Evolution). In: Ders.: Provokationen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 67-118 (= st 1773).

[2] Lem (1990), S. 86. Hervorhebung im Original.

[3] Sowohl Ich bin Legende als auch Die Straße sind mittlerweile verfilmt worden.

Über Tobias Illing

Germanist und Kulturmanager mit angeborener Lust zu Lesen und einem Zweitwohnsitz im Internet. Autor von http://www.paginasecunda.net Zeige alle Beiträge von Tobias Illing

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