LpB Rheinland-Pfalz sucht Leitung Referat Gedenkarbeit

Für die Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz wird eine neue Leitung des Referats Gedenkarbeit gesucht.

Zu den Aufgaben gehören unter anderem die Vertretung der Gedenkarbeit der LpB und ihrer Gedenkstätten auf Landes- und Bundesebene, die Verantwortung für die landeseigenen Gedenkstätten KZ Osthofen, SS-Sonderlager/KZ Hinzert und für den Lernort „Gestapokeller“ in Neustadt an der Weinstraße sowie die fachliche Aufsicht über das NS-Dokumentationszentrum Rheinland-Pfalz in der Gedenkstätte KZ Osthofen und über die Recherchen und Veröffentlichungen aus den drei Gedenkstätten.

Vorausgesetzt werden neben einem abgeschlossenen Hochschulstudium der Geschichte, Politikwissenschaft oder Pädagogik unter anderem gute Kenntnisse der Neueren Geschichte, insbesondere hinsichtlich der Zeit des Nationalsozialismus und wünschenswert dessen Entwicklung im Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz, sowie Erfahrungen im Zusammenhang mit der Gedenkstättenarbeit bzw. in der (historisch-)politischen Bildungsarbeit.

Nähere Informationen zur Stelle, den Anforderungen, Konditionen und Ansprechpersonen sind dem verlinkten PDF auf der Website des rheinland-pfälzischen Ministeriums für Wissenschaft und Gesundheit zu entnehmen.


Ab- und Zunahme

Ein merkliches Abnehmen des gesunden Menschenverstandes und ein merkliches Zunehmen von Aberglauben deuten darauf hin, dass die Gemeinsamkeit der Welt abbröckelt.

Hannah Arendt

Rage and Petulance

“The debate, as Bannon put it, was not about whether the president’s situation was bad, but whether it was Twenty-Firth-Amandment bad.”

Fire and Fury, S. 297.

Es ist schlimm. Das war zu erwarten; dennoch ist es kaum zu ertragen. Rückblickend ist es eigentlich noch viel schlimmer. Man fragt sich, weshalb diese völlig chaotische, desaströs inkompetente und von Intrigen und persönlicher Missgunst zerfressene Administration nicht schon viel früher in sich zusammengefallen ist wie ein stümperhaft und hastig aufgestelltes Kartenhaus.

Eine Antwort darauf will Michael Wolff in Fire and Fury gar nicht geben. Er ist – um ihn selbst zu zitieren – die Fliege an der Wand, die einen scheinbar ungefilterten Einblick in die dysfunktionale Mechanik einer völlig inkompetenten und unvorbereiteten Administration gewährt. Insbesondere nach dem Ende der Amtsperiode wird klar, dass der 45. nicht nur völlig unqualifiziert für seine Präsidentschaft war, sondern zugleich überhaupt kein Interesse am größeren Bild hatte. Um das Komplizierte sollten sich andere kümmern.

Vermutlich erklärt sich in Wolffs Fokus auf diese anderen – die Strippenzieher und Speichellecker im West Wing – die immense Rage, die nach Erscheinen des Buchs aus dem Oval Office zu hören war. Denn ganz im Gegenteil zum öffentlichen Bild und zu seiner eigenen Selbstwahrnehmung war die Spitzenfigur im Weißen Haus letztlich nur ein Nebencharakter, eine Marionette an den Fäden seines machtgierigen, stets auf den eigenen Vorteil bedachten Umfelds. Welch ultimative Kränkung für einen ohnehin ständig gekränkten Narziss.

Cover von Michael Wolff: Fire and Fury

Michael Wolff: Fire and Fury. Inside the Trump White House.
New York: Henry Holt and Company 2018.
336 Seiten, Hardcover
ab 5,25 €


Verlorene Jugend: Christina Henrys „Lost Boy”

„Once I was young, and young forever and always, until I wasn’t. Once I loved a boy called Peter Pan.

Peter will tell you, that this story isn’t the truth, but Peter lies. I loved him, we all loved him, but he lies, for Peter wants always to be that shining sun that we all revolve around. He’ll do anything to be that sun.

Peter will say I’m a villain, that I wronged him, that I never was his friend.

But I told you already. Peter Lies.” (S. 7)

Und wie er lügt. Märchenhaft klingt es zu Beginn: Eine Insel voller Abenteuer, keine Regeln, keine Erwachsenen — und niemals selbst erwachsen werden.
Doch die Insel ist nicht nur voller Abenteuer, sondern auch voller Gefahren, die aus lausbubenhaftem Spiel im Handumdrehen blutig tödlichen Ernst machen. Und nach ungezählten Sommern ist es Jamie leid, immer neue Gräber zu graben, während Peter die Toten ignoriert, um sein ewiges Spiel nicht zu trüben.

Cover von Christina Henry: Lost Boy

Lost Boy ist von der romantisch verklärten Welt eines Disney-Pans sehr weit entfernt. In Christina Henrys Interpretation des Klassikers von James Matthew Barrie zeigt sich nur zu Beginn noch ein schon stumpf gewordener Rest des vermeintlichen Glanzes der märchenhaften Zauberwelt Peter Pans, in der niemand seiner „Jungs” erwachsen werden muss. Es geht auch gar nicht so sehr darum, ob sie erwachsen werden müssen, vielmehr darum, ob sie es dürfen. Sie dürfen es nämlich nicht; ebenso wie sie die Insel nicht verlassen oder Peters Freundschaft ablehnen dürfen.

Nie aufzuwachsen, immer ein Junge bleiben zu müssen und die Augen vor einer brutalen Wirklichkeit zu verschließen, ist eine Horrorvision, die Christina Henry in aller psychologischer Subtilität und viszeraler Deutlichkeit ausbuchstabiert. Henrys Peter Pan ist nicht nur eine Allegorie auf die naive Idee ewiger Jugend, sondern die monströse Personifikation von Narzissmus, Realitätsflucht und Selbstgerechtigkeit. Henrys Peter reicht es nicht, wie in der Version von Berrie, die Reale Welt einfach zu vergessen, um ewig jung zu bleiben: Für ihn muss Blut fließen. Das Blut unverdorbener Jugend.

Henrys Lost Boy ist eine bis zur letzten Seite fesselnde, schockierende und erschütternde Interpretation der Geschichte der ewigen Jungs im Nimmerland — und absolut keine Kindergeschichte.

Christina Henry: Lost Boy
London: Titan Books 2017
318 Seiten, Taschenbuch
7,99 £


Jubiläum

Die Republikaner sehen in Ruh
eurem klirrenden Getümmel zu.
Kein Staatsanwalt tät ein Wörtlein sagen —
er muß ja die Kommunisten jagen.
Und sie sehen nicht, was in der Reichswehr geschieht …
Es ist immer dasselbe alte Lied:
Der Bürger hofft. Und zieht einen Flunsch.
Und hat im ganzen nur einen Wunsch:
Es soll sich nichts ändern. Die Bahnen solln gehn.
Er will ins Geschäft, um Viertel zehn …
Das ist schon wahr. Das muß man begreifen.
Ihr habt auch schon recht, darauf zu pfeifen.
Ihr vergeßt nur: die Leute eurer Partie
sind genau dieselben Bürger wie die!
Nur lauter. Nur dümmer. Nur mit mehr Geschrei.
Und was gerne prügelt, ist auch dabei.

Seid ihr alle wieder da —?
Ja —?


Kurt Tucholsky, 1930

(Tucholsky, Kurt: Panter, Tiger & Co. Eine neue Auswahl aus seinen Schriften und Gedichten. Hg. von Mary Gerold-Tucholsky. Hamburg: Rowohlt 1996, S. 255.)


Überhaupt, diese Massenbewegungen

Wenn von so vielen jeder nur ein wenig beisteuert, so genügt es, um ihn in Stücke zu zerreißen. Überhaupt habe ich diese Massenbewegungen gern. Keiner will Besonderes dazutun, und doch gehen die Wellen immer höher, bis sie über allen Köpfen zusammenschlagen. Ihr werdet sehen, keiner wird sich rühren, und es wird doch einen Riesensturm geben. So etwas in Szene zu setzen, ist für mich ein außerordentliches Vergnügen.

Musil, Robert: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 1989, S. 115.


Tatsachen und Meinungen

„Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt jedoch in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handle es sich um bloße Meinungen. Beispielsweise kommt als Antwort auf die Frage, wer den Krieg begonnen habe – ein keineswegs heiß umstrittenes Thema – eine überraschende Vielfalt von Meinungen zu Tage. In Süddeutschland erzählte mir eine Frau von ansonsten durchschnittlicher Intelligenz, die Russen hätten mit einem Angriff auf Danzig den Krieg begonnen – das ist nur das gröbste von vielen Beispielen. Doch die Verwandlung von Tatsachen in Meinungen ist nicht allein auf die Kriegsfrage beschränkt; auf allen Gebieten gibt es unter dem Vorwand, daß jeder das Recht auf eine eigene Meinung habe, eine Art Gentlemen’s Agreement, dem zufolge jeder das Recht auf Unwissenheit besitzt – und dahinter verbirgt sich die stillschweigende Annahme, daß es auf Meinungen nun wirklich nicht ankomme. Dies ist in der Tat ein ernstes Problem, nicht allein, weil Auseinandersetzungen dadurch oftmals so hoffnungslos werden (man schleppt ja normalerweise nicht immer Nachschlagewerke mit sich herum), sondern vor allem, weil der Durchschnittsdeutsche ganz ernsthaft glaubt, dieser allgemeine Wettstreit, dieser nihilistische Relativismus gegenüber Tatsachen sei das Wesen der Demokratie. Tatsächlich handelt es sich dabei natürlich um eine Hinterlassenschaft des Naziregimes.

Die Lügen totalitärer Propaganda unterscheiden sich von den gewöhnlichen Lügen, auf welche nichttotalitäre Regimes in Notzeiten zurückgreifen, vor allem dadurch, daß sie ständig den Wert von Tatsachen überhaupt leugnen: Alle Fakten können verändert und alle Lügen wahrgemacht werden. Die Nazis haben das Bewußtsein der Deutschen vor allem dadurch geprägt, daß sie es darauf getrimmt haben, die Realität nicht mehr als Gesamtsumme harter, unausweichlicher Fakten wahrzunehmen, sondern als Konglomerat ständig wechselnder Ereignisse und Parolen, wobei heute wahr sein kann, was morgen schon falsch ist. Diese Abrichtung könnte einer der Gründe dafür sein, daß man so erstaunlich wenig Anzeichen für das Fortbestehen irgendwelcher Nazipropaganda entdeckt und gleichzeitig ein ebenso erstaunliches Desinteresse an der Zurückweisung von Nazidoktrinen vorherrscht. Man hat es hier nicht mit Indoktrinationen zu tun, sondern mit der Unfähigkeit und dem Widerwillen, überhaupt zwischen Tatsache und Meinung zu unterscheiden. Eine Diskussion über die Ereignisse des spanischen Bürgerkriegs wird auf derselben Ebene geführt wie die Auseinandersetzung über die theoretischen Vorzüge und Mängel der Demokratie.“

Arendt, Hanna: Besuch in Deutschland. Aus dem Amerikanischen von Eike Geisel. Hamburg: Rotbuch Verlag 1993, S. 29–31.

Ursprünglich erschienen 1950 in New York.


Glücklich ist, wer vergisst: Willi Winklers „Das Braune Netz“

„Das Außen-, das Justiz- und zuletzt das Innenministerium wurden auf ihre Geschichte hin durchleuchtet, und überall fanden sich, o Wunder: Nazis. Nazis saßen im Bundestag, in den Länderparlamenten, in sämtlichen Behörden und Ministerien, in der Polizei, in der Justiz, sie saßen in der Regierung und sie saßen zu Gericht, in manchen Fällen sogar über ihre ehemaligen Opfer. Die frühe Bundesrepublik war ein einziger Skandal. Eine Partei der früheren NSDAP-Mitglieder hätte bis in die sechziger Jahre die größte Fraktion im Bundestag stellen können. Neunzig Prozent aller Berufssoldaten der neuen Bundeswehr hatten bereits in der alten Wehrmacht gedient. Der Boden, über den er geht, ist unheimlich, schreibt Golo Mann. Aber die frühe Bundesrepublik hat schnell gelernt, auf diesem Boden und auf ihrer Vergangenheit zu leben, gern auch zu tanzen.“ (S. 15f.)

1945 lag Deutschland und mit ihm Europa in Trümmern. Das „1000-jährige Reich“ war nach zwölf Jahren untergegangen und hinterließ den Überlebenden eine moralische Hypothek, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit kaum zu fassen, geschweige denn zu tragen schien. Wie am Morgen nach dem Exzess starrte eine erwachte Bevölkerung auf den Scherbenhaufen und konnte sich vermeintlich nicht erinnern, wie es dazu hatte kommen können.

Gleichzeitig musste es irgendwie weitergehen, ein neuer Staat aufgebaut und gegen den Rückfall in den Exzess verteidigt werden. Das „Dritte Reich“ war zwar besiegt, nicht aber der Nazismus. Die Überlebenden des alten Systems wurden Teil des Neuen. Während in Nürnberg die Hauptverantwortlichen öffentlichkeitswirksam verurteilt und größtenteils hingerichtet wurden, gelang es Millionen von Mittätern und Mitläufern, in das neue, nun endlich demokratische System zu wechseln. Immerhin war ihre Expertise gefragt. Nicht alle Positionen konnten mit Exilanten und Widerständlern besetzt werden.

Willi Winkler arbeitet in Das Braune Netz minutiös heraus, an welchen Stellen es ehemaligen Nazis gelang, sich in der Bundesrepublik einzurichten. Das geschah mal aus Opportunismus, mal aus Pragmatismus; mal wurden Lebensläufe geschönt, manchmal neu erfunden und zweifellos gab es viele ehemalige Nazis, die sich glaubhaft geläutert aus Überzeugung am Aufbau des neuen Staats beteiligten. Dennoch richtete die rasche Assimilation der Kriegsverbrecher einen kaum zu beziffernden moralischen Schaden an. Diesen zu verdeutlichen ist das Ziel von Winklers Arbeit.

„Hätte [Hanns Martin] Schleyer neben [Reinhard] Heydrich im Auto gesessen und wäre mit ihm gestorben, wäre der Mord an ihm jedenfalls später eine politisch und moralisch zu rechtfertigende Tat gewesen. SS-Untersturmführer Schleyer saß nicht neben ihm, er kannte Heydrich vermutlich nicht näher, aber er wohnte in Prag in einer von Juden requirierten Villa, konnte rechtzeitig vor dem Eintreffen der sowjetischen Truppen fliehen, kam mit drei Jahren Internierung davon (im Lebenslauf höflich umschrieben als Kriegsgefangenschaft), stieg bei Daimler-Benz in den Vorstand auf und wurde der Arbeitgeberpräsident, der mit Bundeskanzler Helmut Schmidt ebenso gut verhandeln konnte wie mit dem ehemaligen Kommunisten Willi Bleicher, dem Stuttgarter IG-Metall-Chef, der das „Dritte Reich“ zum größten Teil im KZ Buchenwald verbracht hatte.“ (S. 23f.)

Winklers Buch ist eine Fleißarbeit, die unermüdlich Nazi-Vergangenheiten auflistet. Kleine Mitläufer und handfeste Mittäter, die sich als erstaunlich moralisch flexibel erwiesen und mal mehr, mal weniger auskömmliche Posten in der neuen Bundesrepublik besetzten. Weich gefallen sind sie fast alle; geschützt von Amnestie und allgemeinem Verdrängungsimpuls war ihre Nazi-Vergangenheit kaum je ein Einstellungshindernis. Die Karrieren vor dem Krieg sind dabei so vielfältig wie die in der Bundesrepublik: Hans Globke (Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze und Hauptverantwortlicher für die Namensänderungsverordnung, später Chef des Bundeskanzleramts und rechte Hand Adenauers), Reinhard Gehlen (Generalmajor der Wehrmacht, Gründer der „Organisation Gehlen“, die später mit ihm als Chef zum BND wurde), Hermann Höcherl (NSDAP seit 1931, Leutnant der Wehrmacht, Innenminister 1961-65), Theodor Saevecke (SS-Hauptsturmführer, NSDAP seit 1929, BKA seit 1952, Einsatzleiter während der Besetzung der Spiegel-Redaktion 1962) und viele andere mehr.

„‚Ich bin gezwungen worden, ‚Jud Süß‘ zu drehen‘, trotzte dagegen der arme Verfolgte. ‚Warum soll ich mich jetzt dafür entschuldigen?‘ Veit Harlaan hatte wirklich schwer zu tragen, erst an seinem Ruhm im ‚Dritten Reich‘ und danach wieder an seinem Ruhm im ‚Dritten Reich‘. Der Gutachter Herbert Kraus empfahl, ‚den Mantel des Vergessens über das Dunkel der hinter uns liegenden Zeit zu bereiten‘. Worüber beklagten sich die Juden eigentlich? Der Vorsitzende Richter Walter Tyrolf verfiel in der Urteilsbegründung auf das irrsinnigste aller Argumente: ‚Hätten die Juden nicht schon damals, 1940/41, ins Kino gehen und Strafantrag wegen Beleidigung stellen können?‘ Doch, genau so heißt es in der Begründung des Landgerichts Hamburg, Schwurgericht II, Urteil vom 29. April 1950.“ (S. 236)

Das Braune Netz ist gefüllt mit solchen Beispielen. Sie provozieren ein kaum zu greifendes Unverständnis für die groteske historische Ungerechtigkeit, die in einer ebenso historischen Perversion einen der freiesten, erfolgreichsten und international geachtetsten Staaten Europas hervorbrachte. Tyrolf (NSDAP seit 1937), der als Staatsanwalt an Todesurteilen wegen „Rassenschande“ mitwirkte, wehrte sich übrigens gegen ein Ende der 50er gegen ihn laufendes Ermittlungsverfahren mit der Begründung, er sei „der Letzte, welchem man den Vorwurf machen könnte, dabei sich ‚die Hände mit Blut befleckt‘ zu haben“ (S. 237). Das Verfahren wurde eingestellt.

Winkler neigt zur spitzen, nicht immer ganz wertungsfreien Formulierung. Er ist ein scharfer Beobachter, der Sachverhalte vorlegt und erschütternde Details aus den Biographien sprechen lässt, die von den Personen selbst aus ersichtlichen Gründen häufig lieber verschwiegen worden waren. Winkler blickt unnachgiebig auf ein sumpfiges Milieu, das gute Arbeit geleistet hat, wenig beachtet zu werden. Das liest sich fesselnder als mancher Kriminalroman, wirkt zuweilen aber etwas atemlos, wenn Winkler von Anekdote zu Anekdote springt, als würde die Kaskade der moralischen Ungeheuerlichkeiten gar nicht mehr versiegen.

Sie ist in der Tat lang, die Liste dieser Ungeheuerlichkeiten. Spiegel-Affäre und Wiederbewaffnung, Amnestie und Freisprüche für Kriegsverbrecher, der öffentliche Umgang mit NS-Opfern und nicht zuletzt der fast fanatische Antikommunismus der frühen Bundesrepublik waren letztlich kaum ohne die Beteiligung der „Alten Kämpfer“ denkbar. Die junge Bundesrepublik suchte nach dem Kitt, um den neuen Staat zusammenzuhalten und griff nach der bewährten Methode des Zusammenschlusses durch Ausgrenzung.

Über die paranoide Verfolgung des Kommunismus und dessen Dämonisierung zum absoluten Staatsfeind – von Winkler präzise als Hauptargument herausgearbeitet – gelang es nicht nur, die Bundesrepublik als treuen Verbündeten der Westmächte zu etablieren und die alten Kader (wegen ihrer wiederum unentbehrlichen Erfahrung) zu rehabilitieren, sondern auch – sozusagen als bitterer Treppenwitz – eine makabere Traditionslinie der Identität über Negativabgrenzung herzustellen: vom NS-Antisemitismus über den Antikommunismus bis zum heutigen Rechtspopulismus. Ob etwa die über Jahrzehnte hartnäckig als Sündenbock genutzte „Rote Kapelle“ in der Bundesrepublik überhaupt existierte, geschweige denn eine Gefahr darstellte, spielte damals ebenso wenig eine Rolle, wie der Wahrheitsgehalt heutiger Propaganda gegen Zuwanderer.

Winklers Arbeit mag angesichts der suggerierten Alternativlosigkeit der zeitgeschichtlichen Abläufe zu Verdrossenheit und Entsetzen verleiten – und doch steht über ihr ein großes „Trotzdem“. Der damals so fragile Rechtsstaat ist nicht zusammengebrochen; das Reaktionäre hat sich nicht durchsetzen können. Trotz der moralischen Hypothek entstand aus den Trümmern des „Dritten Reichs“ die heutige Bundesrepublik Deutschland. Es ist Winklers Verdienst, diesen Widerspruch schonungslos aufzuzeigen und zugleich einen Erklärungsversuch anzubieten. Neben den von Winkler aufgefahrenen Beispielen des Opportunismus und Verdrängens kommen die zivilgesellschaftlichen Veränderungen, die letztlich zur Überwindung des „braunen Netzes“ geführt haben, allerdings etwas zu kurz. Das Braune Netz ist dennoch ein Beitrag zum Verständnis der Überlebenslügen der frühen Bundesrepublik – und ein ebenso wichtiges Puzzleteil zum Verständnis der Gegenwart.

Willi Winkler: Das Braune Netz. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde
Berlin: Rowohlt 2019
416 Seiten, gebunden
22,00 €


Catering an Audience: John Greens „Turtles all the Way Down“

„By cell count, humans are approximately 50 percent microbial, meaning that about half of the cells that make you up are not yours at all. There are something like a thousand times more microbes living in my particular biome than there are humans on earth, and it often feels like I can feel them living and breeding and dying in and on me. I wiped my sweaty palms on my jeans and tried to control my breathing. Admittedly, I have some anxiety problems, but I would argue it isn’t irrational to be concerned about the fact that you are a skin-encased bacterial colony.“ (S. 3, Herv. im Orig.)

Ich habe John Green vor einigen Jahren als einen dieser nerdigen Brüder kennengelernt, die sich auf YouTube lustige Videos schicken. John war der, der sich gelegentlich mit Filzstiften bemalte, später einen kleinen Sohn bekam und wohl noch immernoch geradezu existenzielle Höhenangst hat.

Später habe ich dann herausgefunden, dass er nicht nur klug über Literatur spricht, sondern auch selbst Bücher schreibt. Green hatte gerade seinen jüngsten Roman The Fault in our Stars fertiggestellt, der dann wohl auch recht gut ankam. Gut, das ist dann etwas hochgkocht und mittlerweile kann er auf Lesereise wohl Stadien füllen, aber in meiner kleinen Welt ist er immernoch einer dieser Brüder von YouTube.

John Green -

Mit Turtles all the Way Down erschien dann im vergangenen Jahr sein jüngster Roman, der ebenfalls auf dem besten Wege ist, zum Kultbuch zu werden.

Aza, Teenager kurz vor Ende der Highschool, Halbwaise und geplagt von einer psychischen Störung, die ihr einzureden versucht, sie könne sich an jeder Ecke mit dem gefährlichen Balterium Clostridium difficile infizieren und letztlich an einem simplen Kuss sterben, ist dieses Mal die Hauptfigur der Geschichte. Es geht um ihr Verhältnis zu Davis Pickett, einem Freund aus Kindertagen, dessen steinreicher (und latent krimineller) Vater verschwunden ist. Am Verschwinden von P. Sen. ist eine kleine Krimihandlung angeknüpft, die aber schnell versickert und insgesamt nebensächlich bleibt. Im Vordergrund stehen die verwirrenden Emotionen von Teenagern, die innere Zerrissenheit von Aza, ihr Umgang mit und Scheitern an der psychischen Erkrankung sowie die Frage, ob man einen Einfluss darauf hat, wer man ist oder ob nicht die Verhältnisse, Zufälle (oder ein millardenstarkes bakterielles Mikrobiom) das eigene Denken, Handeln und Schicksal bestimmen.

Stilistisch bleibt John Green auf bekannt hohem Niveau. Seine Figuren sind glaubhaft, lebensnah und schlagfertig, die Dialoge überzeugen ebenso wie Azas Innensicht und die Schilderung ihrer Krankheit. Auch der für Green typische, leicht schwarz-fatalistische Humor kommt nicht zu kurz.

Insgesamt bleibt die Handlung aber leider zurückhaltend und vorhersehbar, im Grunde gibt es eigentlich kaum etwas, das wirklich passiert. Auch emotionale Achterbahnfahrten wie in den Stars oder im Erstling Looking for Alaska gibt es dieses Mal nicht. Insgesamt bleibt Turtles daher zu zahm, zu sehr an der Darstellung des Musterbilds vom „anxious Teenager“ verhaftet. Selbstredend sind psychichische Erkrankungen nicht nur ein Topos und in jedem individuellen Fall ernstzunehmen. Aza als literatische Figur hingegen wirkt mir ein bisschen zu sehr, als hätte Green nur seine Kernzielgruppe bedient. Für Nicht-mehr-Teenager hätte es ruhig etwas mehr sein dürfen.


Schöne Routinen

Ist es nicht schöne Routine, in unregelmäßigen Abständen darüber zu berichten, dass zuletzt wenig los war? Als hättet Ihr, liebe Leser, das nicht ohnehin bemerkt. Nun denn:

augenrollgeräusch

In den vergangenen Wochen war hier etwas weniger los.

Dies hatte vor allem private Gründe, die sich von akuter Unlust, Reisen, einer langwierigen und noch immer nicht ganz klaren Zukunftsplanung bis hin zu der zuletzt etwas improvisiert gestarteten Selbstständigkeit als Journalist/Texter erstrecken. Naturgemäß scheint es bei mir immer das Bloggen zu sein, das als erstes hinten runter fällt, wenn es im Alltag etwas anstrengender/trubeliger/belastender wird. Aber da, liebe Leser, müssen wir gemeinsam durch. Lohnt es sich noch, zum drölften Mal Besserung zu geloben? Sicher. Ich gelobe.

Die Lektüre driftete zuletzt doch etwas einseitig in Richtung Boltertrash ab. Insgesamt launig, düstere Tech-SciFi von wechselhafter Qualität, aber eher nichts für die Seite Zwei. Wenn ich etwas gelernt habe, dann dass die Bloggersphäre (Sagt man das noch? Fühlt sich so Y2k an.) in der Wahl der bevorzugten Inhalte doch recht wählerisch ist und (zumindest gefühlt) gerne eine gewisse Stringenz pro Blog erwartet. Zumindest legen die Leserzahlen nahe, dass Experimente etwas weniger Zuspruch finden. Also, kein Boltertrash für die Seite Zwei, solange hier kein wilder Aufschrei zu hören ist. (#boltertrash)

Zum Glück gibt es noch genügend Lektüre, über die es sich zu berichten lohnt. Kürzlich hatte ich Gelegenheit, den SuB etwas aufzustocken (Schickt Hilfe!) und damit auch Futter für die Seite Zwei zu sichten. Gerade liegt Fire and Fury von Michael Wolff auf dem Tisch, was ich in guter Tradition sicher besprechen werde – gut ein halbes Jahr nachdem es alle anderen durchgekaut haben. Bislang rechtfertigt es die erneute Besprechung durch seine erschütternde Aktualität. Wolffs Beschreibungen der Regierung Trump sind eine Groteske, die sich ein literarischer Autor nicht hätte schlimmer ausdenken können. Aktueller Arbeitstitel: „Nein, das hat er nicht gesagt!“

Wo wir gerade bei verstörenden Zukunftsperspektiven sind: Leigh Alexanders Kurzgeschichte The Future We Wanted. Black-Mirror-esk. Google Home und Alexa haben Enkel, die omnipräsent und mittels Microtransaktionen emotional aufrüstbar sind. Die Gleichheit ist sozial durchdekliniert, ohne dass sich unter der sprachlich-korrekten Fassade etwas getan hätte. Leben wir in der Zukunft, die wir wollten?

In Retrospektive werden wir wohl sagen, dass es sich schon länger angefühlt hat, als würde alles immer merkwürdiger werden.